Die altorientalische Stadt Isin lag in der späten Bronzezeit 200 Kilometer südöstlich von Bagdad im heutigen Irak zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris, die ganz Mesopotamien verbanden. Wahrscheinlich ankerten hier um 1500 vor Christus Schiffe mit Baumwollwaren, Elfenbein, Edelsteinen, Schmuck und Gewürzen aus Südindien. Mit den Händlern ging unbemerkt ein vierbeiniger Neuling an Land: Die Schiffsratte (Rattus rattus). Das rund 20 Zentimeter grosse, auch als Hausratte bekannte Tier mit der spitzen Nase überstand die lange Fahrt wahrscheinlich versteckt zwischen Getreidekisten und Trockenfrüchten. Tausende Jahre später findet man bei Ausgrabungen Hinweise auf die Anwesenheit desNagers, die ersten ausserhalb seines ursprünglichen Verbreitungsgebiets. In ihrer ursprünglichen indischen Heimat hatte sich die Hausratte längst den Menschen angeschlossen und an die zivilisatorischen Annehmlichkeiten gewöhnt. Auch ausserhalb Südasiens fand sie in Siedlungen nebst dem grossen Nahrungsangebot viele Versteckmöglichkeiten und Schutz vor Fress-feinden. Die Ratte wurde so zu einem der ersten und erfolgreichsten Kulturfolger der Geschichte.

In Indien verehrt

Während Ratten Schiffe aus Indien als erste Fortbewegungsmittel für ihre Ausbreitung nutzten, so dient dort eine Ratte als Reittier für die hinduistische Gottheit Ganesha. In der Mythologie soll ein als Strafe von den Göttern in eine Ratte verwandelter Dämon ein religiöses Zentrum verwüstet und alle Lebensmittel aufgegessen haben. Die Bewohner wandten sich an Ganesha, den Zerstörer der Hindernisse, welcher die Ratte einfing und zähmte. Ganesha ist heute der Schutzherr von Kaufleuten, und man findet in fast jedem Laden in Indien und Pakistan eine Statue der beleibten rosaroten Figur mit Elefantenkopf. Ratten wiederum gelten ihrerseits als klug und glückbringend. Besonders beeindruckend sieht man dies im Karni-Mata-Tempel im indischen Bundesstaat Rajasthan. Karni Mata war der Legende nach eine weise Frau, die den toten Sohn einer Fürstenfamilie wieder zum Leben erwecken sollte. Der Totengott habe ihr jedoch geantwortet, dass das Kind bereits wiedergeboren sei und er ihr dessen Seele nicht geben könne.

Daraufhin habe die Göttin geschworen, dass niemand aus ihrem Volk das Totenreich betreten, sondern stattdessen als Ratte wiedergeboren werden würde. Die Stars des indischen Tempels sind daher die rund 20 000 Ratten, die von den Besuchern mit mitgebrachtem Essen gefüttert werden. Die Tiere sind kaum scheu, und wem der Nager über die Füsse läuft, dem soll angeblich Glück zuteil werden. Unter den herkömmlichen braunen Ratten gibt es auch einige seltene weisse Exemplare, die die Besucher versuchen mit Leckereien anzulocken. Mit einer solchen Ratte Kontakt aufzunehmen, gilt als besondere Ehre. Wer aus Versehen eine Ratte tötet, der muss das Tier ausserhalb des Tempels begraben und dem Tempel eine Spende in Form einer silbernen oder goldenen Ratte darbringen.

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Unheilbringender Floh

Mit Silber und Gold, aber auch anderen Gütern ging die Reise der mesopotamischen Hausratte weiter über Ägypten in den östlichen Mittelmeerraum. Auf Korsika, den Balearen und an den Küsten Italiens tauchte sie laut archäologischen Funden Ende des 1. Jahrhunderts vor Christus erstmalig auf. Mit der Ausbreitung des Römischen Reiches bis zum 5. Jahrhundert folgten auch die graubraunen Nager. Sie liessen sich in menschlichen Siedlungen und auf Höfen nieder, wo sie sich in Wohn- und Vorratsgebäuden, aber auch in Kellern und Ställen wohlfühlen. Rattenweibchen pflanzen sich ganzjährig fort und werfen nach einer Tragezeit von 21 bis 23Tagen jeweils bis zu 15 Junge. Die Kleinen werden sechs Wochen gesäugt und erreichen mit vier bis sechs Monaten die Geschlechtsreife. Durch diese schnelle Vermehrung bringen es Ratten unter optimalen Bedingungen leicht zu hohen Populationsdichten.

Steter Begleiter der Nager ist der Rattenfloh(Xenopsylla cheopis) und damit auch ein Bakterium, welches Mitte des 6. Jahrhunderts seine fürchterliche Wirkung auf den Menschen zeigte: Yersinia pestis, der Pesterreger. Eine griechische Grabinschrift von 542 berichtet von bösartigen Schwellungen an den Lenden und in den Achseln, typische Symptome der Beulenpest. Mit den Ratten und ihren Flöhen verbreitete sich die nach dem damals regierenden oströmischen Kaiser Justinian benannte Pandemie, die Justinianische Pest, von Ägypten aus im ganzen spätantiken Mittelmeerraum und entlang der Rhone nach Zentraleuropa. Mit der Pandemie und dem Zusammenbruch des römischen Wirtschaftssystems verschwand schlussendlich auch die Hausratte weitgehend von der zentral- und süd-europäischen Bildfläche.

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Stattdessen setzte die Hausratte ihren Siegeszug weiter nördlich fort. In der Siedlung Haithabu nahe der heutigen deutsch-dänischen Grenze stiessen die Bewohner vermutlich um 1050 auf die erste Hausratte. Die frühmittelalterliche Stadt gilt als ein wichtiger Handelsort und Hauptumschlagplatz für den Fernhandel zwischen Westeuropa, dem Nordseeraum und Skandinavien. Mit den Wikingern bestiegen die vierbeinigen Weltentdecker weitere Schiffe und erreichten mit den baltischen Staaten ihre nördlichste Grenze. Hausratten mögen wärmere Gebiete als die kaltgemässigten Klimazonen Russlands und Skandinaviens, denen sie bis heute weitgehend fernblieben. Stattdessen profitierten die Tiere weiter südlich von einer neuen Ära des europäischen Handels im Mittelalter. Bereits im 13. Jahrhundert waren die geselligen Nager wieder auf dem ganzen Kontinent verbreitet und zahlreicher denn je.

Rattenfänger

Im Mittelalter treffen Ratten zum ersten Mal auf professionelle menschliche Gegenspieler: die Rattenfänger. Sie wurden meistens pro Tier bezahlt und waren entsprechend motiviert, möglichst viele Ratten zu fangen und zu töten. Nebst Fallen verwendeten die Rattenjäger auch speziell trainierte Hunde, die sogenannten Rattler. Die kleinen und wendigen Hunde können den Nagern bis zu einem gewissen Grad in Spalten und Löcher folgen und unterstützten die Rattenfänger so bei ihrer Arbeit. Doch auch in diesem Metier gab es schwarze Schafe. Laut Anekdoten soll manch einer, statt die Nager zu fangen, diese statt-dessen gezüchtet und entsprechendes «Kopfgeld» einkassiert haben. Sehr effizient, aber nicht bezahlt worden sein soll laut Sage der berühmte Rattenfänger von Hameln. Nachdem er die deutsche Stadt um 1284 auf einen Schlag von allen Ratten und Mäusen befreit haben soll, verweigerten ihm die Bürger seinen Lohn. Er rächte sich daraufhin, indem er wenig später mit seiner Flöte statt der unerwünschten Nagetiere sämtliche Kinder aus der Stadt in den Wald lockte, wo sie für immer verschwanden.

Auch die erfolgreichsten Rattenfänger konnten jedoch nicht verhindern, dass 1347 abermals die Pest in Europa ausbrach. Bis vor kurzem machte man auch hier die Ratten beziehungsweise ihre Flöhe für die Ausbreitung verantwortlich. Allerdings können auch Menschenflöhe den Pesterreger aufnehmen und weiterverbreiten. Diese Variante ist laut einer Computersimulation der Universität Oslo (Norwegen) sogar weitaus wahrscheinlicher als eine Übertragung durch den Rattenfloh. Der tödliche Siegeszug der Pest im Mittelalter basiert also eher auf dem engen Zusammenleben und der mangelnden – aber damals normalen – Hygiene. Trotzdem ist der Ruf der Ratte nicht ganz rehabilitiert, spielt sie doch bei heutigen Ausbrüchen der Pest, wie zum Beispiel auf Madagaskar im Jahr 2017, durchaus als Überträger eine zentrale Rolle.

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Gefrässige Neulinge

Zur Zeit der grossen Entdeckungsreisen machte die Schiffsratte weiterhin ihrem Namen alle Ehre. Es ist davon auszugehen, dass sich auch im Rumpf der Santa Maria, mit der Christoph Kolumbus 1492 in See stach, die eine oder andere Ratte versteckte. Wann genau sich die Nager auf dem amerikanischen Kontinent etablieren konnten, ist unbekannt. Sicher trugen die Lebensmittellieferungen aus Europa während des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs im 18. Jahrhundert zur Verbreitung der Hausratte bei, aber auch schon mit Pelzjägern landeten regelmässig Schiffe aus Übersee an den Küsten der USA und Kanada.

Bei einzelnen Inseln ist man sich jedoch ziemlich sicher, wann die Nager erstmals auftauchten. Zwischen Südamerika und der Antarktis, 1400 Kilometer östlich der Falklandinseln, liegt Südgeorgien. Das Eiland steht stellvertretend für viele Inseln, deren Ökosysteme durch Ratten nachhaltig verändert wurden. Lange war die zerklüftete, meist von Eis bedeckte Insel ein unbewohntes Naturparadies, in dem Königspinguine(Aptenodytes patagonicus) brüteten und sich Seelöwen (Otaria flavescens) ungestört an den Ufern sonnten. Im Januar 1775 betrat der britische Seefahrer James Cook als erster Mensch das Eiland, und mit ihm die Schiffsratte. Südgeorgien entpuppte sich für die Nager als wahres Paradies. Hier gab es keine natürlichen Feinde, dafür ein reichhaltiges Buffet. Dies war eine Katastrophe für die vielen bodenbrütenden Vögel der Insel, die bis dahin für ihre Brut nichts zu befürchten hatten. Auch die Küken und selbst ausgewachsene Vögel fielen den gefrässigen Ratten zum Opfer. Schätzungen zufolge sind die Ratten für den Rückgang der Vogelpopulation der Insel von über 90 Prozent verantwortlich. 2009 zogen Artenschützer die Reissleine: Den Eindringlingen sollte es an den Kragen gehen und die Insel wieder rattenfrei werden.

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Die Organisation «South Georgia Heritage Trust» sorgte dafür, dass über der Insel per Hubschrauber grossflächig Giftköder abgeworfen wurden. Ein immenser Aufwand, mussten die Köder sowie die drei Hubschrauber inklusive Treibstoff doch per Schiff zu der Insel gebracht werden. Die entstandenen Kosten von rund 10 Millionen Franken wurden durch Spenden getragen. Der Projektleiter Tony Martin betonte 2015: «Es muss ein Köder für jede einzelne Ratte erreichbar sein.» Zwei Jahre nach der gross angelegten Aktion zieht er Bilanz: «Die Ergebnisse sind grossartig. Die Ratten sind weg, und es siedeln sich wieder Vögel an, darunter die nur auf der Insel vorkommende Unterart der Spitzschwanzente (Anas georgica georgica)

Wo immer Ratten im Schlepptau des Menschen neues Land besiedelten, trafen sie auf Ökosysteme, die diese Art von Fressfeinden bisher nicht kannten. Die Nager sind äusserst geschickte Kletterer und machen auch vor akrobatischen Manövern über dünne Äste nicht halt. Gerade auf Inseln leben selten Säugetiere oder Greifvögel, die den Ratten gefährlich werden und sie im Schach halten können. Wie Südgeorgien greifen daher auch andere Inselstaaten heutzutage zu drastischen Methoden, um ihre heimische Natur zu schützen. Aufgrund der Schäden, die sie an neu eroberten Ökosystemen anrichten, sind Ratten laut der Organisation «International Union for Conservation of Nature» (zu Deutsch etwa «Internationale Vereinigung für Naturschutz») eine der 100 schlimmsten invasiven Arten der Welt. Trotzdem kann man dabei keineswegs von einer tierischen «Schuld» reden. Fernab jeder moralischen Bewertung tut ein Tier schlicht, was es tut. Und egal, um welche Tierart es sich handelt: Wo sie auf wenig Fressfeinde und ein hohes Nahrungsangebot trifft, steht ihrer Ausbreitung nichts im Wege.

Plötzlich Konkurrenz

In Europa hingegen bekam die Hausratte bereits um 1500 plötzlich Konkurrenz von der Wanderratte(Rattus norvegicus). Die Art ist etwas grösser, eher braun, mit einer stumpferen Nase und wesentlich robuster als ihre zierliche Verwandte. Wie genau die ursprünglich aus dem nördlichen Ostasien stammende Wanderratte nach Europa kam, ist bis heute nicht ganz geklärt. Wahrscheinlich ist jedoch, dass sie ähnlich wie die Hausratte als blinder Passagier über Handelsrouten natürliche Grenzen überquerte und sich schliesslich auch bei uns etablieren konnte. In der Schweiz wurde die Wanderratte erstmals 1809 in Aufzeichnungen erwähnt; die USA erreichte sie wahrscheinlich bereits um 1750.

Die Konkurrenz war für die Hausratte verheerend. Die Wanderratte ist besser an kühleres Klima angepasst und ein ausgesprochener Opportunist. Sie ist noch weniger wählerisch als ihre kleine Verwandte und hat dadurch einen Vorteil, wenn Nahrung knapp wird. Wie die meisten Nager vermehrt sich auch die Wanderratte äussert schnell, mit einer frühen Geschlechtsreife, kurzen Tragezeit und zahlreichen Jungtieren. Heute hat die Wanderratte die Hausratte in Europa fast vollständig verdrängt. Mittlerweile gilt Letztere in der Schweiz sogar als vom Aussterben bedroht. Die Wanderratte jedoch feiert einen globalen Siegeszug. Sie kommt weltweit auf allen Kontinenten mit Ausnahme von Antarktika sowie auf fast allen grösseren Inseln oder Inselgruppen vor. Wie zuvor die Hausratte sorgt sie in vielen ihrer neuen Lebensräume für Probleme und wird vielerorts vehement bekämpft.

Ratten essen
Ratten sind überall und häufig anzutreffen und werden daher in vielen Teilen der Erde auch gegessen. Frauen vom Volk der Mishmi in Tibet und Indien dürfen zum Beispiel als Fleisch nur Schwein, Fisch, Wildvögel und Ratten essen. In Teilen Nordindiens werden Ratten speziell gezüchtet und als exotische Delikatesse vermarktet. Reisfeldratten (Rattus argentiventer) werden in vielen Teilen Südostasiens als «Ratte am Stiel» gegessen und auf den Philippinen kann man Rattenfleisch sogar in Dosen abgefüllt kaufen. Auch in Westafrika spielen Ratten, insbesondere die Riesenhamsterratte (Cricetomys gambianus), zunehmend eine wichtige Rolle in der Ernährung. Dort tragen sie regional bis zu 90 Prozent zum konsumierten tierischen Eiweiss bei. Auch Rohrratten (Gattung Thryonomyidae) werden gerne gejagt und gegessen. Bei uns sind Ratten ein Nahrungstabu, auch wenn sie in Notzeiten durchaus gegessen wurden. Während des Zweiten Weltkriegs sollen britische Biologen sogar auf Laborratten zurückgegriffen haben. Im Islam und im Judentum ist der Verzehr von Ratten hingegen explizit verboten.

In Europa landeten vermehrt Wanderratten statt Hausratten in den Fallen von Rattenfängern. Einer der bekanntesten war der Kammerjäger Jack Black, der in London ab 1835 zusammen mit seinem Welsh Terrier Jagd auf die Nager machte. Lebend gefangene Ratten nutzte er häufig zur Demonstration seiner Künste oder verkaufte sie an Veranstalter von sogenannten Ratbaiting-Shows, bei denen Ratten zur Belustigung des Publikums von Hunden zerfleischt wurden. Nebenbei studierte Black das Verhalten der Tiere, um seinen Fangerfolg zu verbessern. Besonders schöne Exem-plare behielt er und begann mit der Zucht von zahmen Wanderratten. Er verkaufte sie an wohlhabende Familien, die die Tiere zu Hause in Eichhörnchenkäfigen als exotische Haustiere hielten. Eine seiner Kundinnen soll die Autorin Beatrix Potter gewesen sein, die eines ihrer Bücher ihrer zahmen Ratte Sammy gewidmet hat.

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Einzug als Haustiere

In ihrer ursprünglichen Heimat wurde die Ratte schon länger als Haustier geschätzt. Grundsätzlich hat die Ratte in Asien einen weitaus besseren Ruf als bei uns und hat nebst Indien auch in anderen Ländern eine positive kulturelle Bedeutung. In der chinesischen Astrologie ist die Ratte eines von zwölf Tierkreiszeichen. Sie gilt einerseits als kontaktfreudig und initiativ, andererseits als angriffslustig und impulsiv. Ihre Laster sollen Völlerei und süsses Nichtstun sein. Zur Edo-Zeit in Japan von 1603 bis 1868 gehörte es zum guten Ton, sich eine Ratte zu halten, und es wurden sogar entsprechende Ratgeber publiziert. Wahrscheinlich stammen die meisten weltweit als Haustiere gehaltenen Ratten von diesen japanischen Tieren ab. Heute nennt man die domestizierte Form der Wanderratte Farbratten. Ihren Namen erhielten sie durch die verschiedenen Fellfarben, die die selektive Verpaarung zahmer Tiere hervorbrachte. Albinos, weisse Ratten mit roten Augen, waren schon früh bei Schaustellern und fahrenden Zirkusleuten beliebt. Die klugen Tiere wurden schnell zutraulich und verschmust, lernten Tricks und sorgten für reichlich Unterhaltung. Heute gibt es Farbratten in allen Variationen, von beige über schwarz-weiss gefleckt bis hin zu russisch blau.

Auch praktisch haarlose Zuchtformen sind bekannt, aufgrund ihrer mangelnden Fähigkeit zur Temperaturregulierung und den oft gekräuselten Tasthaaren jedoch nicht unumstritten. Ähnlich in der Kritik stehen auch die «Dumbo-Ratten». Bei dieser Zuchtform sind die Ohren gerundet und seitlich vom Kopf abstehend, was ihr ein «niedlicheres» Aussehen verleihen soll. Dadurch sind die Tiere jedoch in ihrem Ohrenspiel, eine wichtige soziale Ausdrucksweise, eingeschränkt. Zudem sollen sie häufig schlecht hören können oder gar taub sein. Auch schwanzlose Tiere wurden schon gezüchtet, da viele Menschen den Schwanz bei Ratten eklig finden. Dieser ist für Ratten jedoch ein wichtiges Organ, welches zum Gleichgewichthalten, beim Balancieren und Klettern wie auch zur Temperaturregulierung benötigt wird.

Als Haustier zeigen Ratten, dass sie besser sind als ihr Ruf. Sie sind saubere Tiere, die sogar zu Stubenreinheit erzogen werden können, denn die meisten Farbratten haben eine Lieblingsecke, in der sie ihr Geschäft verrichten. Ratten sind nicht nur untereinander sozial, sondern zeigen sich auch gegenüber dem Halter zutraulich und sogar verkuschelt. Die gelehrigen Tiere sind offen für Tricks, lassen sich leicht beobachten und begleiten ihren Menschen auch gerne mal auf der Schulter oder in einer geräumigen Pullitasche, wie es vor allem seit den 1970ern bei Punks geläufig ist.

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Die artgerechte Haltung von Ratten muss jedoch immer in Gruppen von mindestens drei Tieren erfolgen. Entsprechend brauchen sie einen grossen Käfig mit Zwischenetagen, Höhlen und Klettermöglichkeiten. Bei den primär dämmerungsaktiven Tieren kann es oft richtig hoch hergehen, und manch einen Rattenhalter erwarten die eine oder andere schlaflose Nacht. Ratten passen sich aber schnell dem menschlichen Rhythmus an, erst recht, wenn Futter und interessante Aktivitäten zu erwarten sind.

Liebling der modernen Forschung

Bevor zahme Ratten jedoch gänzlich als Haustiere populär wurden, hielten sie in der Forschung Einzug. 1828 fand erstmals ein Laborexperiment statt, bei dem die Nager genutzt wurden. Sie entpuppten sich als äusserst nützliche und den Menschen in vielerlei Hinsicht ähnliche Modellorganismen und wurden zur ersten Tierart, welche gezielt für den Laborgebrauch gezüchtet wurde. Ab 1906 begann man am Wistar Institute of Anatomy and Biology der Universität Pennsylvania in den USA standardisierte Laborratten zu züchten, die «Wistar-Ratten». Diese Albinoratten sind dafür bekannt, besonders sanft und freundlich zu sein, und sind heute in vielen Forschungsinstituten zu finden. Das Erbgut der Ratte wurde 2004 komplett entschlüsselt und stimmt zu 90 Prozent mit dem des Menschen überein. Gene, die bekannt dafür sind, bei Menschen Krankheiten zu verursachen, findet man auch in Ratten. Durch entsprechende Forschung können heute gesundheitliche Leiden wie Parkinson, Diabetes, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Verletzungen der Wirbelsäule aber auch psychische Erkrankungen und verschiedene Krebsarten besser verstanden sowie wirksame Therapien entwickelt werden.

Auch ihre Intelligenz und das Sozialverhalten sind für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler interessant. Klassische Experimente untersuchen mithilfe eines Labyrinths, wie Navigation, Gedächtnis sowie Lernen bei Säugetieren und nicht zuletzt auch beim Menschen funktionieren. In eben ein solches Labyrinth haben Forschende der ungarischen Universität Eötvös und des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie in Konstanz (Deutschland) gleich ganze Gruppen von Ratten geschickt. «Wir haben festgestellt, dass Ratten in Gruppen bei der Suche nach einem Ziel tatsächlich besser abschneiden als Individuen», berichtet Máté Nagy, der Leiter der Studie. Ratten wechseln zwischen Alleingang und Teamwork und finden so als Gruppe schneller eine Lösung – in diesem Fall den Weg durch ein Labyrinth. Und vielleicht sind gerade ihre Geselligkeit und der hohe Grad an sozialen Interaktionen der Schlüssel zum Erfolg der Nager. Wanderratten leben meist in sogenannten Clans, bestehend aus mehreren Männchen und Weibchen, mit denen sie nicht nur durch die engen Gänge ihrer verzweigten Bauten navigieren, sondern sich auch gegenseitig putzen, bei der Aufzucht der Jungtiere helfen und sich Futter teilen.

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Letzteres machte sich ein Schweizer Forscherteam zunutze. An der Universität Bern führte es Experimente durch, bei denen die Nager je eine Partnerratte kennenlernten, die entweder Futter teilte oder eben nicht. Und dann wurden die Rollen in einer darauffolgenden Begegnung vertauscht, und die Ratten konnten entscheiden, ob sie ihrerseits Futter mit dem Partner teilen wollten. Dabei zeigte sich, dass lediglich nur jene Individuen Futter abbekamen, die zuvor ebenfalls geteilt hatten. Und nicht nur das. «Die Tiere passen ihre Hilfsbereitschaft sogar auch mengenmässig an das zuvor vom Partner erhaltene Futter an», berichtet Michael Taborsky, emeritierter Professor der Verhaltensbiologie in Bern. «Sie erinnern sich also in komplexen sozialen Situationen daran, welcher der Artgenossen ihnen wie viel geholfen hat, und sind entsprechend grosszügig oder eben nicht.» Ratten helfen sich also gegenseitig nach dem Motto «Wie du mir, so ich dir». Soziale Individuen haben dadurch einen Vorteil: Sie leben in einer ebenso hilfsbereiten Umgebung und können sich darauf verlassen, nicht ausgenutzt zu werden. Menschen handeln oft ganz ähnlich.

Neues Zuhause für Laborratten

Solche Grunderkenntnisse sind das Ziel vieler Experimente mit Ratten, aber auch angewandte Forschung findet mit den Tieren statt. Laut Statistiken des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen wurden in der Schweiz 2020 rund 53 000 Ratten in Laboren gehalten, 17,6 Prozent weniger als im Vorjahr. Über zwei Drittel kamen bei Experimenten mit dem Schweregrad null zum Einsatz. Das bedeutet, dass die Versuche laut Vorgaben nicht mit Schmerzen,Leiden oder Schäden verbunden waren.

Früher wurden alle Tiere am Ende der Versuche euthanasiert, und auch überzählige gezüchtete Tiere wurden getötet. Im Hebst 2018 startete die Universität Zürich zusammen mit dem Schweizer Tierschutz ein Projekt, bei dem Ratten, die weder gentechnisch verändert noch in belastenden Versuchen verwendet wurden, stattdessen an den Tierschutz überschrieben wurden, um in private Haltung vermittelt werden zu können. Die Tierschutz-Sektion «Club der Rattenfreunde CH» übernimmt dabei eine tragende Rolle. Die Präsidentin Judith Bernegger zieht Bilanz: «In den knapp vier Jahren konnten wir rund 300 Ratten ein Leben als Haustierratten ermöglichen. Es handelt sich dabei vorwiegend um junge Tiere. Sie leben sich nach der Um- und Eingewöhnung schnell an ihrem neuen Platz ein und geniessen danach ein richtiges Rattenleben. Die neuen Besitzer müssen dabei nichts Spezielles beachten, denn die Laborratten sind genau wie andere Farbratten und haben die gleichen Bedürfnisse.»

Die Vermittlung ist allerdings zeitaufwendig und intensiv, denn der Club achtet genau darauf, dass für all seine Ratten die richtigen Menschen gefunden werden und auch die Haltung den Anforderungen entspricht. «Die Rattenhaltung ist anspruchsvoll und man braucht durchaus auch Zeit», mahnt Bernegger. «Wenn es aber passt, dann ist es immer wieder schön, den Tieren so ein glückliches Leben zu ermöglichen. Man merkt aber auch, dass ein Umdenken in der Wissenschaft begonnen hat.» Viel mehr als früher würde heute überlegt werden, wie viele Tiere wirklich für ein Versuch benötigt werden. Dies ist einer der Punkte des 3-R-Prinzips: «Replace, Reduce, Refine» («Ersetzen, Reduzieren, Verbessern»), womit Tierversuche und die Anzahl dafür verwendeter Individuen auf ein Minimum beschränkt werden sollen. Dazu sind Forschende in der Schweiz schon länger per Gesetz verpflichtet. Den Tieren ausserhalb des Labors ein neues Leben zu ermöglichen, ist Teil einer tierfreundlicheren Strategie und stösst auch bei Forschenden auf Begeisterung. Mittlerweile beteiligen sich auch andere Tierschutz-Sektionen an dem sogenannten «Rehoming». Nebst Ratten haben so auch Mäuse und Kaninchen aus Forschungsprojekten in der Schweiz eine Chance auf ein zweites Leben als Haustier.

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