Über Ewigkeiten taten sie klag- und problemlos das, was man von ihnen erwartete: Sie gaben Milch und Fleisch und zogen schwere Fuder. Eigentlich hätte das auch noch ein paar Ewigkeiten so weitergehen können. Doch dann kamen Anfang des letzten Jahrhunderts die Landwirtschaftsfunktionäre. Die sagten den Bauern in den Bündner Bergen, dass es da diese braune Rasse gebe. Grössere Tiere mit viel mehr Milchleistung. Und sie sagten, dass grösser und mehr auch besser sei. Das war scheinbar das Todesurteil für das Rätische Grauvieh, wie die Rasse offiziell heisst. Die kleinen Grauen verloren innerhalb weniger Jahre ihren Platz. Im ganzen Berggebiet? Nein: Im Tirol, da gab es offenbar ein paar Unverbesserliche, die an ihrem Grauvieh festhielten.

Szenen- und Zeitenwechsel. Vor 42 Jahren kam in Cumbel, in der Bündner Val Lumnezia, ein Bub auf die Welt. Aldo Arpagaus hatte schon als Schüler ein paar Geissen. Sein grösster Wunsch aber war: eine Kuh! Er sparte, bekniete seine Eltern und bekam endlich, endlich seine Kuh. Nicht irgendeine, sondern eine rare, schöne. Eine Graue! Noch jetzt leuchten Arpagaus’ Augen, wenn er davon erzählt. «Sie entsprach genau dem Charakter, den man dem Grauvieh nachsagt: Klein, stämmig, berggängig. Ich konnte sie im Freien melken, ohne sie anbinden zu müssen, und ich durfte sie mitnehmen, als ich meine Lehre auf einem Bauernhof begann.»
Arpagaus ist ein treuer Mensch.

Heute melkt er seine Tiere im eigenen Freilaufstall auf dem 29-Hektaren-Hof. Aber es ist immer noch Grauvieh. «Und ich möchte keine andere Rasse», sagt er und fährt fort: «Schau sie dir an. Es sind einfach schöne Tiere, die genau hierher passen. Mir käme es auch nie in den Sinn, ihnen die Hörner zu nehmen. Die gehören einfach dazu.» Arpagaus arbeitet mit seiner Familie in den Bergzonen drei und vier. Dementsprechend ist das Futterangebot. Ausgewachsene Kühe wiegen rund 450 bis 550 Kilogramm, sind also viel leichter als andere Rassen und richten dadurch auch weniger Trittschäden auf den Weiden an.

Sie fressen ausschliesslich das, was diese Weiden hergeben: Also Raufutter. «Ich muss nichts zukaufen. Die Kühe brauchen und erhalten auch weder vor noch nach der Geburt Kraftfutter.» Also auch nicht das Gran-Alpin-Getreide, das er auf zwei Hektaren anbaut. «Die werden zu Brot und Bier», sagt er lachend. Wie viel Milchleistung hat eine Kuh, die nur Gras und Heu frisst und noch nie etwas von Soja aus Südamerika gehört hat? «Im Schnitt um die 3000 Liter», sagt Arpagaus.

Sanftmütig, aber nicht nur
Die Höchstleistung haben seine Grauen meist nach der fünften Laktation. Also dann, wenn eine Turbokuh schon an den Metzger denken muss. Arpagaus’ Kühe werden in der Regel zwölf, fünfzehn Jahre alt. Ihre Kälber kommen mit sechs bis acht Monaten auf die Schlachtbank. «Ihr Fleisch ist ausgesprochen feinfaserig, zart und begehrt. Wir vermarkten alles selber und haben keine Absatzsorgen», sagt der Biobauer.

Die Rückkehr der Grauen begann also vor etwa 40 Jahren. Zusammen mit der Stiftung ProSpecieRara (PSR) importierten ein paar Landwirte Grauvieh aus dem Tirol. Sie fanden dort vereinzelt noch kleinere Tiere, von denen man ausgehen konnte, dass sie mit dem einst in der Schweiz beheimateten Albula-Grauvieh verwandt waren. «Inzwischen hat es fast im ganzen Alpenbogen wieder Tritt gefasst», weiss Philippe Ammann, Bereichsleiter Tiere bei PSR und dort zuständig für das Grauvieh-Programm.

Das Rätische Grauvieh ist ein Produkt der Völkerwanderung. Das Torfrind der Pfahlbauer, die Rinder der Rätier und das Vieh der Kelten, Alemannen und Walser formten diese alte Rasse. In der Abgeschiedenheit der Bündner Täler entwickelten sich lokale Schläge, darunter das kleinere und leichtere Rätische Grauvieh – der sogenannte Albula-Typ, den auch Arpagaus bevorzugt. Daneben gab es den etwas grösseren und schwereren Oberländer-Schlag, der heute verschwunden ist.

Es ist auch nicht so, dass alle Rätierinnen einen sanftmütigen Charakter haben. «Es kommt sehr darauf an, wie du mit ihnen umgehst», sagt Arpagaus. Seit er keine Tiere mehr zukaufen muss, sondern einen Stier mitlaufen lässt und selber züchtet, zeigen seine Tiere keine Auffälligkeiten mehr. Wem würde er einen Umstieg oder Neuanfang mit dem Rätischen Grauvieh empfehlen? «Wäre ich Bauer im Mittelland, hätte ich vielleicht auch keine Grauen», sagt er. Grauvieh sei keine Rasse für Bauern, die «Gas geben» wollen. «Wer Höchstleistungen will, soll entsprechende Tiere bevorzugen. Wer wie wir im Berggebiet wohnt, ist mit Rätierinnen gut bedient.»

www.raetischesgrauvieh.ch

Rätisches und Tiroler GrauviehDer Verein Rätisches Grauvieh Schweiz (RGS) setzt sich mit der Stiftung ProSpecieRara für das ursprüngliche Rätische Grauvieh ein. Daneben gibt es den Grauvieh-Zuchtverein, der unter anderem mit schwereren Tieren die Milchleistung fördern möchte, und einen Rassenclub bei Mutterkuh Schweiz, welcher sich auf die Nutzung von Grauvieh als Fleischrind konzentriert. Während diese beide vor allem mit dem grösseren Tiroler Grauvieh arbeiten, konzentrieren sich ProSpecieRara und RGS auf den kleineren Ur-Typ.

www.bio-hof-gudigliel.com