Paradressur
Nicole Geiger: Schweizer Dressurstar bei den Paralympics 2024
Mit 25 Jahren veränderte sich ihr Leben drastisch: Teillähmung der linken Körperseite. Heute ist sie die älteste Paraolympionikin der Schweiz. Die Dressurreiterin Nicole Geiger bestritt in Paris ihre dritten paralympischen Spiele.
C4!», ruft Nicole Geiger ihrem Mitreiter zu. Wie sie am Boden gelandet war, wusste sie nicht genau. Sie hatte einen schönen Ritt, ihr wurde schwummrig, dann lag sie da. Doch was ihr klar war: Sie spürte ihren Körper nicht mehr. Genauer gesagt nach dem vierten Halswirbel, im Fachjargon eben C4. Nicole Geiger war damals 25 und Physiotherapeutin, arbeitete noch kurz zuvor im Paraplegikerzentrum in Basel und ihr einziges Anliegen in diesem Moment war, nicht selbst dort zu landen.
«Was machst du, wenn du ins kalte Wasser fällst? Du schwimmst», antwortet die mittlerweile 61-jährige Paraolympionikin auf die Frage, wie sie auf ihren Unfall reagiert hat. Dabei war sie an diesem Tag gerade erst an einem Patrouillenritt – einem Plauschturnier mit lustigen Aufgaben. Mit einem kurzen Galopp wollten sie und ihr Mitreiter sich die Zeit bis zur Rangverkündigung vertreiben. Gegessen hatte sie scheinbar zu wenig. Alles wurde schwummrig und sie fiel in vollem Galopp von ihren Pflegepferd Njet. Sie hatte Glück im Unglück. Die Rega brachte sie schnell ins Spital, wo man sie gleich operierte. Trotzdem wachte sie teilgelähmt auf. Ihre linke Seite ist bis heute schwächer, einige Muskeln arbeiten nur teilweise, gewisse gar nicht. Ihre linke Hand ist zu einer halb geschlossenen Faust fixiert. Von irgendetwas abgehalten hat sie das aber nicht. «Tokyo steht auf der Weide, Rio ist hier mit auf dem Platz und Paris habe ich unterm Hintern», sagt die 61-Jährige, als sie mit ihrem Nachwuchspferd Donar Weltino vorbeischreitet. Mit dem achtjährigen Wallach tanzte sie im Schlossgarten von Versailles an den Paralympischen Spielen in Paris. «Ich war die älteste Sportlerin der Schweizer Delegation und Donar der Jüngste.» In Rio 2016 ging sie zum ersten Mal für die Schweiz an die Paralympischen Spiele. Diese bestritt sie mit Phal de Lafayette. Der 22-jährige Senior trottet jetzt mit seiner Reiterin Katja, die die Olympionikin tatkräftig beim Bewegen der Pferde unterstützt, über den Platz. Im Galopp sieht man dem Wallach seine erfolgreiche Dressurvergangenheit aber klar an. Als Kind wurde sie mit dem Pferdevirus infiziert, sie schlich sich sonntags immer mit einer Freundin aus der Kirche und putzte die Ponys nebenan. Mit 16 machte sie die Rennlizenz und mit 18 die Trainerlizenz. Noch heute ist sie Trainerin und hat einige Schützlinge unter sich, dabei auch zwei Parareiterinnen. Selbst war sie in der Rennszene, danach auf dem Dressurplatz und in der Vielseitigkeit unterwegs.
An einem Vielseitigkeitsturnier lernte sie Pepo Puch kennen, früher Olympionik in der Sparte Vielseitigkeit und seit 2010 Paradressurreiter – weltweit einer der erfolgreichsten. Im Jahr 2008 stürzte er schwer. Die Folge: eine inkomplette Querschnittslähmung. 2012 in London war er dann erstmals bei den Paralympics am Start – und wie: Gold und Bronze war die Ausbeute. «Parasportler kennen keine Behinderung. Es sind Menschen, die schon immer etwas erreichen wollten», sagt Nicole Geiger. Auch sie wollte vom Spitalbett am allerliebsten gleich wieder aufs Pferd. Am Tag vor ihrem Unfall kam ihr neuer Dressursattel an. «Ich wollte unbedingt diesen Sattel ausprobieren.»
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Auf Watte gehen
Nicole Geiger sass ein halbes Jahr später wieder auf ihrem Pflegepferd Njet. Ritt für Ritt fand sie ihre Sicherheit im Sattel wieder. Auch wenn «es sich anfühlt, als würde ich auf Watte gehen. Als wären beide Füsse eingeschlafen.» Auf dem Pferd spüre sie eine Asymmetrie, ihr linkes Bein habe weniger Kraft als das rechte. Nicole Geiger schwingt ihre Hüften sanft im Galopp von Donar mit. Nach dem Trabübergang streicht sie ihm über den Hals. Sonst behindere sie ihr Handicap aber nicht. Sie arbeitet selbstständig als Physiotherapeutin und als Reitlehrerin.
Dem Parasport blieb sie aber lange fern. Erst als Swiss Paralympics sie als Teil des Selektionskomitees für die Paradressur wollte, wurde sie effektiv darauf aufmerksam. Als Physiotherapeutin und selbst aktive Reiterin sei sie bestens als Selkomitglied geeignet gewesen. Pepo Puch motivierte sie jedoch: «Ach, reit doch lieber selbst», habe er zu ihr gesagt. Und so liess sie sich graden.
Paradressursportlerinnen werden von einer speziell ausgebildeten Ärztin oder einem Physiotherapeuten in einen von fünf Grades eingeteilt. Reiterinnen im Grad V haben eine leichte Beeinträchtigung der Bewegung oder der Muskelkraft, jene im Grad I und II starke Einschränkungen des Rumpfs oder der Extremitäten und sind meist auf den Rollstuhl angewiesen. Nicole Geiger startete im Grad V und gewann an ihrem ersten Paradressurturnier gleich zwei Prüfungen. Sie setzt sich heute für den Paradressursport in der Schweiz ein. Im Gegensatz zum Regelsport fehle es ihm an Ansehen, Förderung und Bekanntheit. Viele hätten eine falsche Vorstellung davon und glaubten, dass Paradressurprüfungen per se einfacher zu reiten seien. Die Programme im Grad V 3* entsprechen Prüfungen auf dem Niveau M. Der einzig grosse Unterschied zum Regelsport: Hilfsmittel sind erlaubt. Diese werden beim Grading fest-gelegt und reichen von magnetischen Steigbügeln bis zu Callern. Diese rufen Reitern, die nichts mehr sehen, den Weg zu. Auch Nicole Geiger darf zusätzliche Hilfsmittel benutzen. Beim Reiten mit mehreren Zügeln hat sie eine Vorrichtung für ihre linke Hand.
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Nie Pause
Döneli, wie sie den grossen schwarzen Wallach liebevoll nennt, schlendert neben ihr her. Im Hintergrund rauscht die Autobahn. Nicole Geiger hat ihre Pferde seit 25 Jahren im selben Stall. Im Rötihof in Möhlin hat sie einen eigenen kleinen Stallteil. Der kleine Schnitzelplatz ist weit entfernt vom Sandplatz im Schlossgarten Versailles. Ihre Olympiapferde trainiert sie vielseitig. «Sicher zweimal die Woche gehen sie ins Gelände oder auf die Galoppbahn.» Für ihre Kadertrainings verlädt sie nach Kölliken und selbst trainiert sie in der Reithalle im Stall nebenan, dafür wird auch bei Wind und Wetter die Autobahn überquert. Die Haltung helfe ihr und ihren Pferden auf jeden Fall. Sie mache sie zu ruhigen Sportspartnern, denn sie sind nicht nur auf Turnieren Menschen und Reizen ausgesetzt. Traktoren, Kinder und Hunde tummeln sich auch auf dem Hof.
Sechs Stunden pro Tag wendet sie für die Pferde auf, an Trainings- oder Turniertagen sind es natürlich bei Weitem mehr, erklärt sie. Im Spitzenpferdesport zu sein, ist nicht nur zeitaufwendig, sondern auch teuer. Für die jährlichen Turnierkosten eines Sportpferds rechnet Nicole Geiger satte 25 000 Franken. Um ihren Quotenplatz für die paralympischen Spiele herausreiten zu können, fuhr sie sieben Wochen und siebentausend Kilometer durch die Gegend. Die Finanzierung sei nicht immer einfach: «Um gesponsert zu werden, musst du schon sehr erfolgreich sein.» Auch die Unterstützungsgelder decken die Kosten nur für eine gewisse Zeit.» Sie begleitet Döneli auf die Weide und streckt ihm eine Karotte hin. «Knurpf», und sie ist verschwunden.
Die Stimmung einer Olympiade sei auch beim dritten Mal noch überwältigend. Zu einem alten Hasen werde man da nicht, sagt die Paraolympionikin. Ihr achtjähriger Wallach stapft über das Gras. Im Gegensatz zu einigen ihrer paralympischen Kollegen kann sie sich auch nach den Spielen keine Pause erlauben: «Ich habe keine Ferien, besonders nicht nach einem Turnier.Döneli galoppiert mir auch morgen wieder erwartungsvoll von der Weide entgegen.»
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