Corona-Krise: Profitieren die Wildtiere?
Leere Pärke, Seeufer und Skigebiete, kaum Autos auf den Strassen – aber auch keine Essensresten in den Hinterhöfen der Restaurants: Die Corona-Krise verändert für Wildtiere die Umwelt. Gibt es Gewinner? Oder Verlierer? Vorderhand bleibt vieles Spekulation.
Die grösste Stadt der Schweiz ist zu einer zubetonierten Leere geworden. Wer dieser Tage – zum Beispiel dank der Webkamera der NZZ – seinen Blick über den Zürcher Sechseläutenplatz und das Bellevue schweifen lässt, entdeckt kaum einen Menschen. Alle Restaurants und die meisten Geschäfte sind geschlossen, die Bevölkerung bleibt zu Hause, die Autos in den Garagen.
Schlägt nun die Stunde jener Lebewesen, die der Grossstadttrubel normalerweise verscheucht? Kommen Füchse, Dachse, Marder und Eichhörnchen aus ihren Verstecken? Läuft in ein paar Tagen vielleicht sogar eine Rotte Wildschweine über den Paradeplatz? Erobern Reh und Hirsch die Grossstadt, wie es einige Medienberichte in den letzten Tagen mit Bildern aus Japan glauben machen wollten?
Die Biologin Anouk Taucher von den Projekten StadtWildTiere und Wilde Nachbarn, die auf den Plattformen stadtwildtiere.ch und wildenachbarn.ch Meldungen von Wildtieren in Städten und Dörfern entgegennehmen, ist skeptisch. Zwar würden weiterhin fleissig Beobachtungen gemeldet, sagt sie. «Aber nicht unbedingt, weil es mehr Wildtiere in der Gegend hat. Vielleicht fallen den Leuten die Tiere eher auf, weil es weniger Verkehr hat und weniger Leute draussen sind.»
Weniger Essensresten, aber keine leere Mägen
Sie und ihre Arbeitskolleginnen und -kollegen von der Wildtier-Forschungsgemeinschaft Swild in Zürich, welche StadtWildTiere initiiert hat, betonen, dass Anpassungen von Wildtieren an veränderte Umweltveränderungen normalerweise nicht innert weniger Tagen oder Wochen geschehen. «Wir können uns aber gut vorstellen, dass sich zum Beispiel nach einem halben Jahr Quarantäne die Wildtiere vermehrt auch tagsüber zeigen würden», sagt Taucher.
Füchse und Dachse etwa, beides Arten, die häufig im Siedlungsraum angetroffen werden, seien eher in der zweiten Nachthälfte unterwegs, was darauf hindeutet, dass sie den Menschen aus dem Weg gehen. «Bei solchen Arten wäre nach längerer Zeit eine Anpassung des Verhaltens an die verringerte menschliche Aktivität denkbar.» Sprich, die Tiere würden ihre Aktivität auf den Tag verlegen. Möglich sei aber, dass schon jetzt ruhiger gewordene Orte nachts häufiger von lokalen Füchsen oder Dachsen besucht würden.
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Rasch neu orientieren müssen sich einige Stadtwildtiere bei der Futtersuche. An vielen Seeufern etwa füttern Menschen Enten und Schwäne. Weil die Seepromenaden nun in vielen Städten abgeriegelt sind, müssen die Vögel für sich selber sorgen. Auch für Füchse – die nicht absichtlich gefüttert werden – ist die Stadt laut Anouk Taucher in normalen Zeiten ein Schlaraffenland. Nun aber gibt es weniger Menschen in der Stadt, die Abfälle wegschmeissen, und weil Restaurants geschlossen sind, fallen auch bei ihnen keine Essensresten an. «Dies bedeutet aber nicht, dass wir nun die Wildtiere füttern müssten», sagt Taucher. «Sie finden in der Stadt trotzdem noch genug zu fressen.»
Ein ruhiger Platz zum Nisten?
Die Frühlingszeit ist für viele Tierarten Fortpflanzungszeit, zum Beispiel für die meisten Vögel. Darüber, was sich für sie durch die Corona-Massnahmen ändere, könne man letztlich nur spekulieren, sagt Livio Rey, Biologe und Mediensprecher der Schweizerischen Vogelwarte Sempach. Klar ist, dass menschliche Aktivitäten Brutvögel stören können. Für ein Experiment simulierte die Vogelwarte vor einigen Jahren in Waldstücken, durch die keine Wege führen, mit Lautsprechern die Gespräche von Spaziergängern. «Die folgenden Vogelzählungen ergaben weniger Reviere und weniger Arten als in unberührten Waldstücken, in denen man keine Spaziergänger-Simulationen vorgenommen hatte», sagt Rey. Allerdings weiss man nicht, ob die Schweizer Wälder seit den Corona-Vorschriften ruhiger geworden sind – oder ob wir Menschen in Ermangelung anderer Freizeitbeschäftigungen sogar öfter in den Wald gehen.
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Zudem, sagt Rey, handelte es sich bei den in der Studie untersuchten Vögeln grossteils um häufige Arten wie Meisen oder Buchfinken. Anders liegt die Situation bei manchen Gebirgsvögeln wie dem Birk- oder dem Auerhuhn. Sie können im Winter und im Frühjahr unter Störungen durch Skifahrer, Snowboarder oder Wanderer leiden, die sich nicht an ausgeschilderte Pisten und Wege halten. «Dauern die Massnahmen länger, wäre es zum Beispiel spannend, die Entwicklung des Auerhuhn-Bestandes zu beobachten», sagt Rey. Momentan könne man auch hier nur mutmassen.
Man könnte sogar spekulieren, dass die (hoffentlich vorübergehende) Ruhe für manche Wildtiere eine Falle ist. Errichtet ein Vogel sein Nest in einem abgesperrten Stadtpark an der falschen Stelle, muss er vielleicht in einigen Wochen, wenn wieder Trubel herrscht, die Flucht ergreifen und die Brut abbrechen. Solche Fälle seien durchaus möglich, sagen sowohl Livio Rey als auch Anouk Taucher. Beide betonen jedoch, dass solche Fehleinschätzungen auch sonst vorkommen: Immer wieder mal nistet ein Vogel auf einem Balkon – und wird vertrieben, wenn dessen Besitzer mit den ersten warmen Frühlingstagen plötzlich draussen zu essen beginnt.
Rettungsaktion früher beendet
Für viele Menschen, nicht nur in der Stadt, ist die hörbarste Auswirkung des Coronavirus das Ausbleiben von Verkehrslärm. In Leserbriefen freuen sich Zeitungsleser darüber, dass sie frühmorgens nun mit einem Vogelkonzert aufwachten, statt mitten im Motorengedröhne. Das ist aber nur ein Effekt der Verkehrsabnahme: Weniger Autos bedeuten für manche Wildtiere weniger Gefahr. Jeden Frühling verenden zum Beispiel zigtausende Frösche, Kröten und Molche, weil sie auf dem Weg in ihre Laichgewässer buchstäblich unter die Räder kommen.
Ist die gute Nachricht der Corona-Krise also, dass immerhin die Amphibien profitieren? Zum Teil könnte dies tatsächlich zutreffen, sagen die Amphibienspezialisten Silvia Zumbach und Benedikt Schmidt von der Koordinationsstelle für Amphibien- und Reptilienschutz in der Schweiz (karch). Sie selber habe zum Beispiel an der von ihr betreuten Amphibienzugstelle die Zäune entfernen lassen, mit denen die Tiere sonst jeweils am Überqueren der Strasse gehindert würden, sagt Zumbach. Sie einzusammeln und über die Strasse zu tragen sei mit dem spärlichen Verkehr momentan nicht nötig.
Zumbach und Schmidt betonen aber, dass die Amphibienwanderung dieses Jahr bereits Anfang Februar begann. «Zum Zeitpunkt, als die Massnahmen gegen die Pandemie eingeleitet wurden, war der Grossteil der Wanderung bereits vorbei», sagt Schmidt. Wie sehr Grasfrosch oder Erdkröte vom Corona-Shutdown profitieren, bleibt deshalb ungewiss.
Beobachten und meldenWildtiere lassen sich auch im eigenen Garten beobachten, manchmal gar durchs Stubenfenster. Die Initianten der Projekte StadtWildTiere und Wilde Nachbarn sind an jeglichen Wildtier-Beobachtungen interessiert: Wer will, kann sich auf den entsprechenden Plattformen anmelden und seine Meldungen eintragen:
www.stadtwildtiere.ch
www.wildenachbarn.ch
Die Vogel-Meldeplattform ornitho.ch ihrerseits ruft Vogelfreunde dazu auf, die Corona-Zeit zu Hause zu nutzen, um vollständigere Beobachtungslisten vom Fenster, Garten oder Balkon aus zu machen. Angemeldete Mitglieder können auf der Plattform ihre Daheim-Beobachtungen unter dem Projekt #StayHomeAndWatchOut melden.
www.ornitho.ch
Verschiedenste Wildtierarten können auf der Webseite der karch und des Schweizerischen Instituts für Kartografie der Fauna gemeldet werden – es existiert sogar eine Melde-App mit Artenporträts und Bestimmungsschlüsseln für bestimmte Tiergruppen.
www.webfauna.ch
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