Fokus
Der Panda im Grundwasser
Laut dem Bund leben in der Schweiz 39 Tier- und Pflanzenarten, die es sonst nirgendwo auf der Welt gibt. Ihre Bestände werden regelmässig überwacht. Doch ob das reicht, um sie zu erhalten, ist unsicher. Forscher wollen die Schweizer Endemiten deshalb bekannter machen.
China hat den Grossen Panda, die Schweiz, na ja, Gelyella monardi. Zumindest, wenn man Pascal Moeschler fragt. Der Biologe und Kommunikationsverantwortliche des Naturhistorischen Museums Genf möchte das kaum einen Drittel Millimeter grosse Krebslein, das noch nicht einmal einen deutschen Namen besitzt, zum Aushängeschild der Schweizer Tier- und Pflanzenwelt machen. Das klingt bizarr, und ist es vielleicht auch, doch Moeschler hat durchaus seine Argumente.
Denn Gelyella, wie Moeschler die Art der Einfachheit halber nennt, ist eine Besonderheit. Man könnte sie als Ur-Schweizerin bezeichnen. Sie ist in unserem Land entstanden und hat niemals woanders gelebt. Seit 20 Millionen Jahren, so lange wie wohl kein anderes Lebewesen. «Damals», sagt Moeschler,
«bedeckte ein Meer einen grossen Teil des europäischen Kontinents, von Marseille bis Wien.» Gelyellas Ahnen gelangten in diesem Urmeer in die Region des Neuenburger Juras – und einige von ihnen kolonisierten dort unterirdische Süsswasservorkommen. Als sich das Meer zurückzog, blieben diese Besiedler für immer von ihren Verwandten im Salzwasser isoliert.
Ein halbes Jahr Wasser gefiltert
Das war ihr Glück. Denn während die Meeres-Gelyellae allesamt aus unbekannten Gründen ausstarben, überlebten die Süsswasser-Gelyellae im Grundwasserstrom unter der Areuse-Schlucht. Es muss ein ziemlich monotones Leben sein dort unten: Es ist stockdunkel und das Wasser bleibt das ganze Jahr über praktisch gleich warm. Gelyella verlor denn auch im Lauf der Jahrmillionen ihre Augen und ihre Körperfarbe. Und sie blieb selbst in ihrem einzigen Lebensraum ziemlich selten, wohl weil sie sich nur langsam fortpflanzt.
Wahrscheinlich hätte noch heute kein Mensch eine Ahnung von der Existenz dieses zu den Ruderfusskrebsen zählenden Tieres, wenn nicht Pascal Moeschler gewesen wäre. Als Biologiestudent kam er auf die Idee, im Grundwasser der Areuseschlucht nach winzigen Lebewesen zu suchen. Ein halbes Jahr lang filterte er Unmengen von Grundwasser – 2500 Liter pro Minute. Erst dann ging ihm Gelyella in sein Sieb.
Es war ein besonderer Fund, wie Moeschler sagt. Denn im Stammbaum des Lebens musste für das kleine Krebschen eine eigene Ordnung geschaffen werden, so wie für die Schmetterlinge. Nur eine einzige andere Art gehört zu dieser Ordnung, sie wurde in einem Grundwasserstrom im südfranzösischen
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Montpellier entdeckt. Im Jahr 2011 schrieb das Bundesamt für Umwelt (Bafu) in einer Publikation, Gelyella monardi stelle «nach heutigem Wissen möglicherweise die international schutzwürdigste Tierart der Schweiz dar».
So gesehen scheint es nicht mehr derart abwegig, Gelyella als eine Art Schweizer Panda zu bezeichnen. Zumal die Gruppe der Tiere und Pflanzen, die einzig und allein in der Schweiz vorkommen, nicht besonders gross ist. Das liege vor allem daran, sagt Moeschler, dass die letzte Eiszeit grosse Teile des Landes leerfegte. Die meisten Lebewesen, die heute auf Schweizer Territorium vorkommen, wanderten vor weniger als 15 000 Jahren ein.
Die wichtigsten Arten der Schweiz
Im Jahr 2017 veröffentlichte das Bafu erstmals eine Liste der «Endemiten der Schweiz». 39 Tier- und Pflanzenarten, die nur hierzulande vorkommen, setzten Forscher um Pascal Tschudin von GBIF Schweiz, einer von der Schweiz und anderen Staaten getragenen Plattform für den Austausch weltweiter Biodiversitätsdaten, darauf. «Wir berücksichtigten nur Organismengruppen, in denen der Kenntnisstand und die Taxonomie genügend klar waren», sagt Tschudin. «Zudem mussten wir sicher sein, dass es sich wirklich um eigenständige Arten handelt.»
Die Idee hinter der Liste ist klar: Für endemische Arten trägt die Schweiz eine besondere Verantwortung. Ihre Standorte müssen überwacht und allenfalls geschützt werden. Denn gehen sie verloren, ist keine Wiederansiedelung möglich wie einst beim Steinbock. Wenn die Verbreitung einer Art noch nicht gänzlich erforscht scheint, empfehlen Tschudin und seine Kollegen auch, nach weiteren Standorten zu suchen.
Aus der Liste ragen als einzige Wirbeltiere die 14 endemischen Fischarten heraus, die meisten davon Felchen, wobei diese Zahl laut Felchenspezialisten auf veralteten Angaben beruht – heute sind deutlich mehr endemische Felchen aus den Schweizer Seen
beschrieben (siehe Text Seite 16). Daneben gibt es unter anderem acht Käfer, fünf Schnecken, eine Heuschrecke (siehe Text Seite 15) und sechs Pflanzen, die nirgendwo sonst auf der Welt vorkommen.
Innerschweizer Spezialschnecke
Eines dieser Kleinode ist die Nidwaldner Haarschnecke (Trochulus biconicus). Es handelt sich um eine nur einen halben Zentimeter grosse Häuschenschnecke, die ausschliesslich in einem begrenzten Gebiet auf 2000 bis 2600 Metern Höhe in den Innerschweizer Alpen lebt. Der Biologe Markus Baggenstos, der in Stans ein ökologisches Beratungsbüro führt, untersucht die Art schon seit Jahren und hat dabei diverse neue Vorkommen entdeckt. Laut ihm geht es der Haarschnecke so weit gut. «In dieser Höhenlage gibt es nicht sehr viele Störungen durch Wanderer», sagt Baggenstos. Zudem scheine eine massvolle Beweidung die Schnecke nicht sonderlich zu stören. Sie lebt unter flachen Steinen in Gebieten, die sich durch ein Mosaik aus Rasen und Schuttfluren auszeichnen. «Indem Kühe solche Steine verschieben, können sie sogar neue Lebensräume schaffen für die Schnecke», sagt Baggenstos.
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Obwohl momentan laut dem Spezialisten kein spezifischer Handlungsbedarf zum Schutz der Nidwaldner Haarschnecke gegeben ist, steht die Art unter besonderer Beobachtung. Bei der Einrichtung des Smaragdgebietes Walenstöcke-Brisen habe man darauf geachtet, auch die Fundstellen der Haarschnecke in diesen Schutzraum aufzunehmen. Zudem beauftragte der Kanton Nidwalden Baggenstos damit, in einem Monitoring der Frage nachzugehen, ob die Haarschnecke wegen der Klimaerwärmung immer höher ins Gebirge steigt. Bislang gebe es noch keine Anzeichen dafür, sagt Baggenstos.
Die Klimaerwärmungsfrage stellt sich bei verschiedenen Schweizer Endemiten. Auch die Schnee-Edelraute (Artemisia nivalis) hat nicht viele Ausweichmöglichkeiten, wenn es ihr zu warm wird. Die nur zehn bis 15 Zentimeter grosse Pflanze wächst einzig am Rothorn bei Zermatt im Oberwallis – auf einer Höhe von über 3000 Metern. Info Flora, das nationale Daten- und Informationszentrum der Schweizer Flora, kontrolliere den Bestand der Art im Rahmen seines Monitorings regelmässig, sagt Info-Flora-Mitarbeiter Adrian Möhl. Über die Auswirkungen des Klimawandels sei allerdings noch kaum etwas bekannt.
Ein anderer Pflanzenendemit ist das Schweizer Lungenkraut. Es wächst in Laubmischwäldern zwischen dem Neuenburger- und dem Genfersee. Nicht auf der Bafu-Liste zu finden ist hingegen die Pflanze, die noch vor einigen Jahren als der Schweizer Endemit schlechthin galt: das Ladiner Hungerblümchen (Draba ladina). Es ist im Gebiet des Schweizer Nationalparks verbreitet – aber eben nicht nur dort, wie man früher glaubte. «2011 fand man das Hungerblümchen auch 20 Kilometer südlich der Schweizer Grenze in den Livigno-Alpen», erzählt Adrian Möhl. «Das illustriert die Problematik der politischen Endemiten.»
Pflanzen und Tiere halten sich nämlich nicht an Landesgrenzen. In diesem Sinn hat die Endemiten-Einteilung nach Staaten etwas Künstliches – und ist nicht in Stein gemeisselt. «Es ist eine lebendige Liste», bestätigt Pascal Tschudin. Trochulus caelatus etwa, die Flache Haarschnecke, kommt im jurassischen Grenzgebiet vor. «In diesem Fall ist es eine Frage der Zeit, bis sie jemand in Frankreich findet», sagt Tschudin. Dann fliegt sie von der Liste der Arten mit strikt auf die Schweiz beschränktem Verbreitungsgebiet und wird quasi degradiert – genau wie das Ladiner Hungerblümchen.
Auf der anderen Seite ist die Tür auch offen für Neuzuzüge. Untersuchungen in den Schweizer Seen etwa dürften weitere Felchenarten zutage fördern. «Und den Gletschersaftling (Hygrocybe glacialis), einen Pilz, hätten wir schon jetzt gerne auf die Liste genommen», erzählt Tschudin. Nach Rücksprache mit Pilzspezialisten entschied man sich aber eine Gen-Analyse abzuwarten, um die Verwandtschaftsverhältnisse definitiv zu klären. Bestätigen die Tests tatsächlich seinen Artstatus, ist die Schweiz um einen Endemiten reicher.
Gefahr durch Erdgas-Bohrungen
Das Problem der Endemiten: Die meisten sind kleine, unscheinbare Geschöpfe; vielfach wissen nur Spezialisten mit ihren Namen etwas anzufangen. Um den Schutz dieser Tiere und Pflanzen zu verbessern, müssten sie auch in der Bevölkerung bekannt gemacht werden, findet Pascal Moeschler. Denn nur allzu schnell ziehen dunkle Gefahrenwolken auf für ein kleines Tier wie die Gelyella. Vor einigen Jahren wurden Pläne des britischen Energieunternehmens Celtique Energy bekannt, im Neuenburger Jura nach Erdgas zu bohren. Das hätte auch den Lebensraum des kleinen Grundwasser-Krebsleins gefährdet.
So weit kam es nicht. Das Parlament des Kantons Neuenburg verhängte 2014 ein zehnjähriges Bohr-Moratorium. Sicherlich nicht nur aus Sorge um Gelyella – wichtiger war den Politikern wohl, dass grosse Teile der Stadt Neuenburg ihr Trinkwasser aus dem Grundwasserstrom der Areuse-Schlucht beziehen. Aber immerhin. Das Beispiel zeige, sagt Moeschler, dass das Krebschen eine Art Wachposten sei für eine wichtige und unterschätzte Ressource: Geht es Gelyella gut, ist das Trinkwasser sauber.
Pascal Moeschler und das Naturhistorische Museum Genf wollen diese und andere Botschaften rund um die Schweizer Endemiten in den nächsten Jahren vermehrt unter die Leute bringen. Den Anfang macht eine Ausstellung über Gelyella in Champ-du-Moulin, im Herzen der Areuse-Schlucht, die noch bis 2021 läuft. Später sollen, in Zusammenarbeit mit der Plattform InfoSpecies, weitere dezentrale, mobile Ausstellungen folgen über Arten, die nur in der Schweiz leben. Damit die Bewohner von Regionen mit solchen Natur-Juwelen stolz darauf werden. So, wie die Neuenburger langsam Gelyella als ihren Panda zu betrachten begännen, sagt Moeschler. «Denn wenn wir diese Tiere nicht sichtbar machen, werden sie verschwinden.»
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