Auf dem Col des Mosses im Waadtland Anfang September. Der Weg wird immer schmaler und führt zwischen verschiedenen Rinderherden hindurch. Doch die Kühe interessieren an diesem sonnig-warmen Tag nicht. Die «Tierwelt» ist mit Anna Roesti und ihrem Partner Rinaldo Eggel auf der Suche nach Roestis Ziegen, die irgendwo im weitläufigen und steilen Gelände weiden. Dem Glöggli-Gebimmel folgend, spürt Eggel sie hinter einem Wäldchen auf.

Neugierig läuft sie hinter ihm her, die bunte Schar: die graue Capra Grigia, die tiefschwarze Nera Verzasca, weiss-schwarze Pfauenziegen, braun-weisse Toggenburger und braun-beige-graue Stiefelgeissen. Bei der Hütte auf 1900 Metern angekommen, rasen sie auf und ab, hüpfen auf Steine und wieder herab und messen sich in Hörner-Duellen. Einzig die vier verschiedenen Walliser Geis­sen und die Bündner Strahlenziegen fehlen – dann wäre Anna Roestis 43-köpfiger Ziegentrupp auf dem Col des Mosses in seiner ganzen Vielfalt komplett.

Die Berner Oberländerin aus Wimmis hat alle Schweizer Ziegenrassen auf ihren verschiedenen Weiden – insgesamt sind es über 100 Geissenmütter, Böcke und Jungtiere. 2008 begann sie mit der Capra Grigia, dann kam die Nera Verzasca hinzu und später eine Rasse nach der anderen. Ja, sie habe dies auch aus Ehrgeiz gemacht, bestätigt Roesti lächelnd. «Niemand hatte alle Rassen, nicht einmal der Ballenberg.» Roesti nutzt ihre Tiere nicht für die Fleischproduktion und nur sehr wenig für die Käseherstellung. «Es ist eine reine Erhaltungszucht.»

 

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Nach vielen Jahren der Beschäftigung mit allen Rassen hat sie beschlossen, die Gämsfarbigen Gebirgsziegen sowie Appenzeller-, Saanen- und Toggenburgergeissen abzugeben. «Ich will mich auf die seltenen und stark gefährdeten Rassen konzentrieren.» Im Trupp bleiben deshalb unter anderem die Rassen, mit denen sie dereinst anfing, und die vier langhaarigen Walliser Rassen. Bei der schneeweissen Capra Sempione etwa habe sie einen guten Stand; sie habe auch schon Tiere dieser Rasse ins Ausland exportiert. «Die Nera Verzasca, weil sie mir einfach gefallen», antwortet sie auf die Frage nach ihrer Lieblingsrasse. «Vom Aussehen her ist die Grüenochte-Geiss die schönste.» Insgesamt aber fasziniert Roes­ti die reiche Palette hiesiger Ziegenrassen.

FreizeitspassDie neugierigen Ziegen sind auch grossartige Begleiterinnen für Freizeit- und Ferienaktivitäten. Sie sorgen im Engadin beim Yoga für Gelächter und Abwechslung. Im Trend ist Trekking mit Geissen: Ob im Gebirge oder im Mittelland – die Vierbeiner sind stets die Stars der Gruppe. Im Mittelpunkt von Raemy’s Ziegenhof im Kanton Freiburg stehen die Kleinen, wenn Kinder abends die Gitzi schöppele dürfen. Eine Auswahl an Adressen.

AG: packgeissenwanderung.ch
BE: lama-und-co.ch
BE: zottelgeiss.ch
BL: geissen-wandern.ch
FR: schwarzsee.ch
GR: cavradelsass.ch
GR: geissherz.ch
GR: minigeiss-dinigeiss.ch
SG: packgeiss.ch
SG: geissebuebe.ch
VS: aletscharena.ch

Menschliche Selektion
Auch Tosso Leeb hebt diese Vielfalt hervor. «Die meisten Säugetiere sind relativ einfach gefärbt oder gleichmässig gezeichnet», sagt der Direktor des Instituts für Genetik der Berner Vetsuisse-Fakultät, der mehrere Forschungsarbeiten zum Thema publiziert hat. Nicht so Ziegen: Schon das Fell ihrer wilden Vorfahren, bis heute als Bezoare von der Türkei bis nach Pakistan heimisch, hatte komplexe Muster und verschiedene Farben von dunkelbraun bis gelblich rötlich, die mit den Jahreszeiten wechseln.

Bereits die ersten Besitzer domestizierter Ziegen interessierten sich für die diversen Färbungen und begannen, mit besonderen Mutanten zu züchten. «Das war damals von existenzieller Bedeutung», erklärt Leeb, «weil Halter die Tiere als ihre erkannten und sie von den Ziegen der Nachbarn und von Wildtieren unterscheiden konnten.» Die menschliche Selektion führte schliesslich zu weltweit über 600 Ziegenrassen. Sie sind auf Milch, Fleisch oder Kaschmirwolle spezialisiert und sehen unterschiedlich aus.

«Keine andere Säugetierart hat so viele Muster wie die Ziegen», betont Leeb. Dass dies so ist, ist auf das Zusammenspiel verschiedener Faktoren zurückzuführen. Die Pigmente in den Haaren und in der Haut bestehen aus dem Farbstoff Melanin. Wie bei allen Säugetieren bestimmen auch bei Ziegen zwei Typen von Melaninpigmenten die Farbe. Eumelanin sorgt für ein dunkelbraunes bis schwarzes Fell, während das sehr variable Phäomelanin ein helles cremeweisses bis sattes tiefrotes Fell bewirkt.

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Als zentrales Gen für die Fellfärbung steuert das Agouti-Gen die Grundfarbe sowie die Verteilung von Eumelanin und Phäomelanin auf die verschiedenen Körperstellen. Das Agouti-Gen kommt bei der Ziege in geschätzt neun bis zwölf Variationen vor, Allele genannt. Bei vielen dieser Allele haben sich Teile des Gens vervielfältigt. «Das weisse Fell der Appenzeller- und Saanengeissen geht auf mehrere Kopien des Agouti-Gens zurück», erklärt Leeb. Diese Vervielfältigung verstärke das Phäomelanin und sorge dafür, dass kein Eumelanin gebildet werde. Deshalb sind die Tiere schneeweiss.

Die Ziegenvielfalt vom Col des Mosses im Video

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Schweizer Marken und Dachsgesicht
Das Agouti-Gen kontrolliert auch andersfarbige Abzeichen wie Streifen im Gesicht oder am Rücken. Dabei werde das Ablesen des Agouti-Gens reguliert, sagt Leeb: «Das ist ungewöhnlich, denn die meisten Gene werden über die ganze Haut gleichmässig stark abgelesen produziert. Nicht so Agouti.» Typische Schweizer Vertreterinnen dieses Phänomens sind die Bündner Strahlenziegen und die Toggenburger Geissen. Ihre weissen Streifen am schwarzen respektive braunen Kopf reichen vom Hornansatz bis zum Maul und haben als «Swiss Markings» Einzug in den englischen Sprachraum gefunden.

«Da, wo bei den Strahlenziegen das Fell schwarz ist, ist das Agouti-Gen ausgeschaltet», erklärt Leeb die Genetik dahinter. Bei den Toggenburgern käme eine zusätzliche Gen-Variation hinzu, weshalb das Eumelanin schokoladenbraun sei. Ein braunes Fell und schwarze Streifen zeichnen die Stiefelgeiss und die Gämsfarbige Gebirgsziege aus. «Badgerface» nennen die Angelsachsen diese Zeichnung, weil sie an das Kopfmuster der Dachse erinnert.

Einzigartig sind die Pfauenziegen. Die hinten schwarz und vorne weissen Tiere hiessen ursprünglich Pfavenziegen. Als «Pfave» bezeichnete man die für sie typischen schwarzen Bänder entlang des Nasenrückens. Pfauenziegen hätten ein paar Gemeinsamkeiten mit «Badgerface», sagt Leeb, und ihre Variante des Agouti-Gens sei wohl aus dem Badgerface-Allel entstanden. Pfauenziegen haben deshalb die gleichen schwarzen Streifen im Gesicht, aber die Verteilung von Eumelanin und Phäomelanin am Körper ist anders als bei den Gämsfarbigen Gebirgsziegen.

Die Ziegenwelt hierzulande ist ziemlich mannigfaltig. Weltweit ist die Vielfalt extrem, wie es Leeb ausdrückt. Aus Pakistan, dem Land mit den meisten Ziegen der Welt, beispielsweise kommt eine Rasse, von der sich Tosso Leeb nicht erklären kann, wie das Muster entsteht: Die Kamori ist schwarz und hat runde orange Flecken.

Seife und WolleEinige Seifenmanufakturen, Biokosmetikhersteller und Halterinnen produzieren Seifen mit Schweizer Ziegenmilch. Diese Seifen mit ihrem weichen Schaum sind ideal für Menschen mit sehr trockener Haut, da Milch hervorragend pflegt und die Seife zugleich rückfettend ist. Eine Auswahl an-Bezugsquellen: hederavita.ch, heiligkreuzer-seife.ch, savonsuisse.ch, schweizer-naturseifen.ch

Die Wollelieferantinnen unter den Geissen schlechthin sind die Angora- oder Mohairziege und die Kaschmirziege. Schweizer Schals, Strickgarne, Kleidung, flauschige Felle und Weiteres bieten unter anderem folgende Adressen an: spycher-handwerk.ch, cashmere-garden.ch, www.swisscashmere.org

Ein Mysterium ist für Leeb auch die scharf getrennte Färbung der langhaarigen Walliser Schwarzhalsziegen in die schwarze Vorhälfte und in das weisse Hinterteil. Er vermute, dass eine einzige genetische Variation in einem sogenannten Hauptgen für ein weisses Hinterteil sorge, welches aber auch unregelmäs­sig ausfallen und sogar schwarze Flecken aufweisen könne. «Zum Hauptgen für das weisse Hinterteil dürften weitere Variationen für die schöne und regelmässige Färbung der Walliser Schwarzhalsziegen sorgen.»

Pfauenziege in der Grüenochte-Geiss
Licht ins Dunkel brachte eine im Mai publizierte Berner Studie dafür in die Farben der Schwarzhals-Schwesterrassen. Die reinweis­se Capra Sempione geht auf Kreuzungen mit Saanen oder Appenzeller zurück, deren Weiss-Allele dominant waren. Bei der vorne braunen Kupferhalsziege war es das Schokoladenbraun der eingekreuzten Toggenburger. Grüenochte-Geissen schliesslich sind vorne grau-schwarz-weiss meliert, was sie von den Pfauenziegen erbten. Dies ist auf den ersten Blick aber kaum zu erkennen, weil das Fell der Grüenochte viel länger ist und weil ihr Grau mit dem Alter und wegen der Sonneneinstrahlung stark schwankt.

Auf dem Col des Mosses ist es in der Zwischenzeit späterer Nachmittag geworden. Weder die mehrfarbige Schar Walliser Geis­sen noch die Bündner Strahlenziegen zeigen sich von nahe. Also geht es zurück in die Region Wimmis zur Bockweide. Mit einem lauten «gib-gib-gib» lockt Anna Roesti die Tiere aus dem Wäldchen. Es dauert nicht lange, da rasen sie heran: Schwarzhals-, Kupferhals-, Grüenochte-, Pfauen-, Strahlen-, Nera-Verzasca- und Capra-Grigia-Böcke. Ein mächtig behörnter Trupp, der kurz vor der Deckzeit strenge Düfte verströmt und der bei der Fotosession das bunte Farbenspiel der Schweizer Ziegenwelt wunderbar abbildet.