Kurz vor Sonnenuntergang versammeln sie sich. Dutzende, verteilt auf verschiedene Bäume. Immer wieder fliegt einer auf, dreht ein paar Runden über der schneebedeckten Landschaft, wechselt den Baum. Die Rotmilane bereiten sich auf die Nacht vor. Sie sind hier, um im nahen Wäldchen gemeinsam zu schlafen. Einer nach dem andern ziehen sie sich mit zunehmender Dunkelheit dorthin zurück. Dann, mit dem letzten Tageslicht, fliegen sie alle noch einmal auf, bevor sie sich endgültig niederlassen. Über 80 der imposanten Greifvögel kreisen an diesem nebligen Abend in Littau bei Luzern über den Bäumen. Ein Schauspiel, das aus der Ferne beobachtet in der winterlichen Stille beinahe andächtig wirkt.

Kein Wunder, sind Laien und Ornithologen gleichermassen davon fasziniert. Denn weshalb sich Rotmilane im Winter an solchen Schlafplätzen zusammenfinden, ist nicht restlos geklärt. «Manche fliegen jeden Abend bis zu 30 Kilometer von ihrem Revier zu einem Schlafplatz», sagt der Biologe Patrick Scherler. Er arbeitet als Doktorand im 2015 von der Schweizerischen Vogelwarte Sempach ins Leben gerufenen Forschungsprojekt zum Rotmilan. Dass sich die Rotmilane durch das gemeinsame Übernachten Schutz vor Feinden versprechen, könnte eine Erklärung sein. Doch die einzigen beiden Fressfeinde des nach dem Bartgeier und dem Steinadler immerhin drittgrössten Greifvogels der Schweiz sind der Habicht und der Uhu, die beide in geringeren Dichten vorkommen als der Rotmilan selbst.

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Im Winter treffen sich die Rotmilane an ihren Schlafplätzen.
  Bild: Meret Signer

 

Viele Menschen füttern Milane
Wahrscheinlicher sei, dass der Hunger die Tiere zusammentreibe, sagt Scherler. Rotmilan-Schlafplätze befinden sich häufig – aber nicht immer – in der Nähe von Futterplätzen. So wie hier in Littau. Es ist Februar und hat geschneit. Unter der Schneedecke kann es den Greifvögeln schwerfallen, Nahrung zu finden. Deshalb sind sie heute wohl auch in so grosser Zahl erschienen, obwohl sich Ende Januar die Schlafgruppen häufig bereits aufzulösen beginnen.

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Patrick Scherler erforscht den Rotmilan.
  Bild: Adrian Baer

Denn sie wissen: Hier gibt es Menschen, die ihnen zu fressen geben. Eine Bäuerin, die ihren Namen nicht in der Zeitschrift lesen möchte, legt den Milanen und vereinzelten Mäusebussarden jeden Tag Fleisch parat. «Sie warten immer schon im Baum auf mich», erzählt sie, während sie sich im Stall um die Pferde kümmert. «Es ist schon ein Spektakel, wenn sie sich die Fleischstücke holen.» Sie füttere aber nur im Winter, beteuert die Frau und sagt: «Ich habe halt einfach ein grosses Herz für Tiere.»

Damit ist sie nicht allein: Wie eine Erhebung der Vogelwarte Sempach ergab, stellt in gewissen Gebieten ein Achtel der Landbevölkerung den Rotmilanen Futter zur Verfügung. «Die Leute haben Freude an den Vögeln», bestätigt Scherler, wobei er selbst die Fütterungen nicht für nötig hält. Viele Greifvögel würden bei Nahrungsmangel im Winter kurzfristig einfach wegziehen, sagt er. Die Fütterungen haben aber seines Erachtens einen wichtigen Teil dazu beigetragen, dass der Bestand des Rotmilans in der Schweiz seit den 1990er-Jahren regelrecht explodiert ist. 

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Die rasante Ausbreitung des Rotmilans von 1994 bis 2015
  Grafik: Mario Nowak, higgs.ch / Vogelwarte Sempach

 

Schaut man heutzutage im Mittelland zum Himmel, kommt es einem so vor, als wimmle es nur so von Rotmilanen. Oft sieht man nicht nur einen, sondern gleich drei, vier oder fünf der eleganten Vögel mit dem rostbraunen Gefieder, dem grauen Kopf und dem auch für Vogelunkundige leicht erkennbaren, tief gegabelten Schwanz kreisen. 

Das ist keine Selbstverständlichkeit, war doch der Rotmilan in den 1950er- und 1960er-Jahren schon fast ausgerottet. Nur noch im Jura gab es 50 bis 60 Exemplare. Der Schutz der Greifvögel und viel Aufklärungsarbeit in den 1970ern brachten die Wende. Die Bestände begannen sich zu erholen. Während es bei uns danach zu einem Boom kam, verzeichneten einige unserer Nachbarländer nur einen zögerlichen Anstieg, wenn nicht gar einen Bestandseinbruch. «Wenn man zum Beispiel über die Grenze nach Frankreich geht, fällt einem sogleich auf, wie viel weniger Rotmilane es dort gibt», sagt Scherler. 

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Das Fotofallen-Bild aus dem Forschungsprojekt zeigt eine Rotmilan-Familie im Nest.
  Bild: Archiv Vogelwarte Sempach

 

Die Hälfte überwintert in der Schweiz
Mittlerweile leben nach Schätzungen der Vogelwarte wieder 2800 bis 3500 Brutpaare im Land – das sind rund zehn Prozent der weltweiten Population. Da die Schweiz somit auch international eine grosse Verantwortung für den Rotmilan trägt, ist er eine von 50 Prioritätsarten des Programms «Artenförderung Vögel Schweiz», an dem die Vogelwarte Sempach, BirdLife Schweiz und das Bundesamt für Umwelt (Bafu) beteiligt sind. 

Als eine rein europäische Art hat der Rotmilan ein relativ beschränktes Verbreitungsgebiet. Umso wichtiger ist es daher, den Fortbestand der Schweizer Population zu sichern. Um allerdings zu wissen, wie man den Rotmilan – auch europaweit – am besten schützen kann, muss man sein Verhalten kennen, wissen, wie sich der Bestand entwickelt und wie sich der grosse Unterschied zum Ausland erklären lässt.

Hier setzen Patrick Scherler und seine Kolleginnen und Kollegen mit ihrem Forschungsprojekt an. Seit 2015 haben sie in den Kantonen Freiburg und Bern 320 Jungvögel und 80 Adulte besendert und überwachen die Nester mit Fotofallen. Über die Jahre erhielten sie so Einblick in das bisher verborgene Leben der Rotmilane – und konnten schon viele Erkenntnisse daraus ziehen. 

Die Bewegungen von 2015 geschlüpfen Rotmilanen in ihrem ersten Lebensjahr (Video: Vogelwarte Sempach):

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Zum einen ist da das veränderte Zugverhalten. Als Kurzstreckenzieher überwintert der Rotmilan in Südfrankreich und auf der Iberischen Halbinsel. Dort und auf dem Weg dorthin droht ihm allerdings viel Ungemach: Nicht nur Stromleitungen und Autos machen ihm zu schaffen, auch die Menschen sind ihm nicht überall so wohlgesonnen wie bei uns. Er wird verfolgt, vergiftet und illegal abgeschossen. Weil es wegen des Klimawandels weniger Tage mit geschlossener Schneedecke gibt und wohl auch dank der Fütterungen, stehen die Chancen der Rotmilane gut, den Winter in der Schweiz zu überleben. So können sie die Risiken des Zuges vermeiden. Etwa die Hälfte der Rotmilane zieht es heute vor, im Winter in der Schweiz zu bleiben, während früher fast alle wegzogen. Vor allem Altvögel, die ein Revier besetzen, bleiben. «Je älter ein Vogel wird, desto weniger zieht er», erklärt Scherler.

Keine Konkurrenz für Mäusebussarde
In ihrem ersten Lebensjahr dagegen wagen noch 90 Prozent der Rotmilane die gefährliche Reise in den Mittelmeerraum. Bis zum vierten Lebensjahr sind es dann schon bedeutend weniger. Im Februar und März kehren sie zurück, in der Hoffnung, ein eigenes Brutrevier zu ergattern. Sie müssen aber meist erst einmal hinten anstehen. Die Reviere sind hart umkämpft. Schliesslich kamen bereits im Januar und Februar die weggezogenen Altvögel an. 

Rotmilan-Bewegungen im Herbst/Winter 2017-2018. Ganz deutlich zu sehen ist, dass jüngere Vögel (blaue und grüne Punkte) mehr wegziehen als ältere (orange und rosa Punkte). CY = Calendar year (Kalenderjahr). (Video: Vogelwarte Sempach)

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Auch im Frühling und im Sommer finden Rotmilane in der Schweiz optimale Bedingungen vor. Die Landschaft sei hier generell strukturierter als in den umliegenden Ländern, weshalb die Vögel auf kleinerer Fläche häufiger Nahrung finden könnten, sagt Scherler. Die Reviere seien kleiner, was höhere Dichten ermögliche. «Ausserdem ist der Rotmilan ein Opportunist. Er weiss auch mit schlechten Bedingungen umzugehen.» So profitiere er teilweise von der intensiven Landwirtschaft und der Zersiedelung, unter der so viele andere Tierarten leiden. Mehr Wiesenschnitte beispielsweise bedeuten für ihn mehr offene Flächen für die Futtersuche. Allerdings warnt Scherler davor, falsche Schlüsse zu ziehen. «Wäre die Landschaft naturnah geblieben, hätten wir die gleiche Entwicklung gesehen oder es ginge dem Rotmilan sogar noch besser.»

Die Gefahr einer Milan-Überbevölkerung droht laut Scherler nicht. Zwar äusserten gerade auf dem Land Menschen oft Bedenken darüber, dass die Rotmilane den Mäusebussarden Konkurrenz machten und ihnen die Nahrung wegschnappten. «Das stimmt so nicht», sagt Scherler. 

Die guten Reviere sind besetzt
Denn auch der Bestand des Mäusebussards in der Schweiz nimmt – langsam – zu. Und er liegt gemäss dem neuen Schweizer Brutvogelatlas der Vogelwarte mehr als fünfmal höher als jener der Rotmilane. In die Quere kommen sich die beiden Arten kaum: Der kräftig gebaute Mäusebussard ist ein aktiver Jäger. Er ernährt sich – der Name sagt es – vor allem von Mäusen. Der grössere, aber feingliedrigere Rotmilan hat zu wenig Kraft in den Klauen, um grössere Tiere zu fangen. Dafür erlauben es ihm seine langen Flügel, stundenlang durch die Luft zu gleiten und den Boden nach Nahrung abzusuchen. Er macht häufig Jagd auf Regenwürmer und frisst Aas, manchmal erbeutet er aber auch Mäuse oder Krähennestlinge. Ins Reich der Märchen gehören daher auch andere Geschichten wie die, dass man seit der Rückkehr des Rotmilans keine Feldhasen mehr sehe. Der Rückgang der Feldhasen sei auf andere Faktoren zurückzuführen, insbesondere die intensive Landwirtschaft, sagt Scherler.

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Wenn sie gross genug sind, werden die Jungvögel vermessen, beringt und mit GPS-Sendern ausgestattet. Danach dürfen sie sogleich wieder ins Nest zurück
  Bild: Archiv Vogelwarte Sempach, Lukas Linder

 

Laut dem Biologen reguliert sich der Bestand des Rotmilans selbst. Wenn wie derzeit im Mittelland praktisch alle Reviere besetzt seien, müssten sich die Elternvögel so intensiv mit der Verteidigung ihres Reviers beschäftigen, dass sie weniger Junge durchbringen könnten. Scherler erwartet zudem, dass die Ausbreitung sich verlangsamt. Der Rotmilan dringt zwar in einige Alpentäler vor, und die Schweiz hält mit der höchstgelegenen Rotmilanbrut auf über 1500 Metern einen Weltrekord. Aber die Lebensumstände in höher gelegenen Gebieten erlauben keine Dichten wie im Mittelland.

Eine rosige Zukunft also für den Rotmilan – zumindest in unserem Land? Das Risiko, dass die Population wieder komplett zusammenbrechen könnte, schätzt Scherler jedenfalls als eher gering ein. «Solange sich die momentanen Umstände nicht grundlegend ändern.» Der opportunistische Rotmilan könne sich wohl auch an Veränderungen anpassen. «Trotzdem müssen die Faktoren, welche die Population beeinflussen, eingehend studiert werden, um böse Überraschungen zu vermeiden.»

Nun, im Frühling, ist es ruhiger im Luzernischen. Die Rotmilan-Schlafplätze haben sich längst aufgelöst. Wer ein Revier hat, ist jetzt mit tollkühnen Balzflügen und der Vorbereitung auf die Brut beschäftigt. Grössere Ansammlungen von Rotmilanen gibt es aber trotzdem da und dort zu sehen. Es sind Jungvögel, die noch kein eigenes Revier haben, aber stets auf der Lauer sind. Der Rotmilan, das scheint ziemlich sicher, ist zurückgekommen, um zu bleiben.