Es ist ein grauer und kalter Morgen Anfang Oktober. Pascal König vom Schweizer Vogelschutz SVS/BirdLife Schweiz schreitet die Strasse hinauf, die zu den Rebbergen oberhalb des malerischen Städtchens Twann führt. Unterhalb erstreckt sich der Bielersee. Jede verfügbare Fläche des Hangs ist mit Weinstöcken bepflanzt.

Die Trauben sind schon so gut wie reif; bald findet in den Weinbaugebieten der Schweiz die Lese statt. Einige Rebstöcke wurden mit einem farbigen, meist blauen Netz überzogen: zum Schutz vor Vögeln, welche die Früchte fressen. Auf diese Netze hat es König abgesehen. Sein Ziel: Er will kontrollieren, ob sie richtig montiert sind. Ausgerüstet ist der 27-jährige Berner mit Karte, Feldstecher und Notizblock. Er verlässt die Strasse, kniet auf die Grasfläche und schaut sich die Montage des Netzes genau an.

Die Maschen hängen lose auf den Boden. «Das darf nicht sein, so kann sich leicht ein Vogel oder ein Igel verfangen.» In einem solchen Fall will sich das Tier befreien. Dabei verheddert es sich immer mehr und muss nach einem langen Todeskampf sterben, wenn es nicht zufällig vorher entdeckt und befreit wird. Wie viele Vögel in den Rebbergen sterben, ist nicht bekannt. «Doch es werden immer wieder Funde gemeldet», sagt König.

Um die Kontrollen durchzuführen, sind viele freiwillige Helfer nötig
Die Kontrolle gehört zu einer Kampagne verschiedener Organisationen. Daran nehmen neben SVS/BirdLife Schweiz auch Pro Igel, der Schweizer Tierschutz, die Schweizerische Vogelwarte Sempach und Vitiswiss (Schweizerischer Verband für naturnahe Produktion im Weinbau) teil. Ausserdem beteiligt sind ein Winzer und die Rebbaukommissäre der Kantone. Die Kontrollen werden vom Schweizer Tierschutz, Pro Igel und SVS/BirdLife durchgeführt und finden von Anfang September bis Ende Oktober in der Deutschschweiz und in der Romandie statt, jedoch nicht im Tessin. «Dort fehlen uns noch die personellen Ressourcen», sagt König.

Er ist beim SVS/BirdLife Schweiz Projektleiter Landwirtschaft und geht heute erstmals auf eine Kontrolltour. Eine Person oder ein Verband könne die Kontrollen nicht alleine durchführen, das sei unrealistisch. Man sei auf viele Freiwillige angewiesen. Ehrenamtlich, versteht sich. Sie müssen sich ein bis zwei Tage Zeit nehmen. «Wir sind froh über jeden, der sich meldet», sagt König.

Er ist bei den nächsten netzüberhangenen Rebstöcken angelangt. Auch diese sind ungenügend montiert und teilweise löchrig. Königs Gesichtsausdruck verfinstert sich. Er sagt: «Hier muss noch einiges an Aufklärungsarbeit geleistet werden.» König erklärt, wie es sein sollte: «Wichtig ist eine straffe Spannung, das Netz muss möglichst engmaschig sein und darf keine grossen Löcher haben. Ausserdem sollte es eine Handbreit über dem Boden sein, auch wegen der Igel.» Er favorisiert die Seitennetze, da dort für Tiere kaum ein Risiko besteht und diese die Trauben am besten beschützen. «Am liebsten wären mir gar keine Netze», sagt König. «Doch ich verstehe natürlich, dass die Winzer eine möglichst unversehrte Ernte haben wollen.»

Bei einem gelben, nachlässig aufgehängten Netz ist König besonders schockiert. «Dieses Modell sollte gar nicht mehr im Umlauf sein, da die Maschen scharfkantig sind. So ist die Verletzungsgefahr umso grösser.» Es ist kein totes Tier darin zu sehen. Doch das sei pures Glück, sagt König: «Wenn der Winzer nichts unternimmt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis etwas geschieht.»

Eigentlich sollten die Winzer es ja wissen: So hat die Eidgenössische Forschungsanstalt «Agroscope Changins Wädenswil ACW» ein Merkblatt über das korrekte Anbringen herausgegeben und es ist schon seit vielen Jahren klar, dass Vögel sich verletzen können. Zu den «Traubendieben» gehören Stare, Sperlinge und Amseln. «Das sind nicht viele Arten, doch sie gehören zu den häufigsten in der Schweiz.» Doch es gibt in den Rebbergen auch viele Vögel, die die Trauben in Ruhe lassen und «nur» dort leben. Dazu zählen seltene Vogelarten wie der Wiedehopf, die Zaunammer oder der Wendehals. «Da ist es natürlich besonders tragisch, wenn ein Exemplar stirbt», sagt König. Zu den möglichen Opfern zählen neben den Vögeln auch Igel.

Netze sind heute die häufigste Abwehr gegen Vögel. Früher beschäftigten Winzer eigens Leute, die in der Reifezeit jeden Tag mit einem Gewehr bewaffnet durch die Rebberge patrouillierten und Vögel mit Warnschüssen davonscheuchten. Diese Methode wird heute kaum mehr angewendet. «Die Personalkosten wären zu hoch», sagt König. «Wer findet schon jemanden, der jeden Tag dafür Zeit hätte?»

Wenn der Winzer sich nicht belehren lassen will, gibt es eine Strafanzeige
Es geht alte, grasbewachsene Steinstiegen hoch. Nur sporadisch sind die Rebstöcke mit Netzen belegt, hauptsächlich diejenigen am Waldrand. «Die Vögel leben im Wald und suchen dann in unmittelbarer Nähe nach Nahrung.» Und bei einem alten Rebstock macht König einen grausigen Fund: Eine tote, im Netz verhedderte Amsel. Offenbar ist sie schon seit Wochen tot, denn es ist nicht mehr viel von ihr übrig ausser Federn. «Ein trauriger Anblick», sagt der Vogelschützer.

Er notiert sich den Fundort auf seiner Karte. Solche Standorte mit schlecht verlegten Netzen leitet er an den zuständigen kantonalen Rebkommissär weiter. Dieser versucht dann in Gesprächen die Winzer dazu zu bewegen, die Netzmontage zu optimieren. Eine Strafanzeige gibt es nur, wenn die Rebberg-Inhaber unbelehrbar und uneinsichtig seien – im Wiederholungsfall also. «Wir wollen nicht auf Konfrontationskurs gehen, sondern möglichst konstruktiv mit den Winzern zusammenarbeiten», erläutert König. Ihm sei auch nur ein Fall bekannt, wo eine Strafanzeige wegen Tierquälerei und qualvoller Tötung von geschützten Wildtieren zu einer Verurteilung führte. «Das war jemand im Kanton Aargau.»

Nach rund zwei Stunden ist der Rundgang beendet. König ist eher unzufrieden mit dem Resultat. «Ungefähr 60 Prozent der Netze sind mangelhaft montiert», sagt er nach einer ersten Schätzung. Im nächsten Jahr finde voraussichtlich erneut eine Kontrolle statt. «Ich hoffe einfach, dass die Winzer die Situation dann ernster nehmen.»