Tierwelt 16/2013
Rehe einfangen, um sie und ihr Leben besser kennenzulernen
Forscher der Universität Zürich wollen herausfinden, wie der Luchs das Verhalten der Schweizer Rehe beeinflusst. Dazu müssen sie die Tiere einfangen und mit einem Sender ausstatten. Kein einfaches Unternehmen.
Noch äsen die sechs Rehe friedlich. Sie stehen auf einer Wiese am steilen Berghang in der Gemeinde Diemtigen im Berner Oberland, nur wenige Hundert Meter von uns entfernt. «Vorwärts», sagt Benedikt Gehr leise in sein Funkgerät – und drei Personen setzen sich in Bewegung. Von drei Seiten gehen wir ganz langsam auf die Rehgruppe zu. Die Tiere sollen nicht in Panik geraten, sondern geordnet den Rückzug antreten – in die Richtung, die ihnen noch bleibt. Schräg den Hang hinauf. Dorthin, wo unsere Netze stehen.
Denn wir wollen die Rehe weder vertreiben noch abschiessen. Wir wollen sie fangen. Das ist nötig für Benedikt Gehrs Forschungsprojekt. Im Rahmen seiner Doktorarbeit an der Universität Zürich untersucht der 31-Jährige, wie das Reh mit der Rückkehr des Luchses umgeht. Dazu will er Rehe mit Sendern austatten und so möglichst viele Daten über die Lebensgewohnheiten der scheuen Waldbewohner sammeln.
Doch ein Reh zu fangen ist kein Pappenstiel: Die Vorbereitungen für den heutigen Fangversuch dauern fast einen halben Tag – und sie sind schweisstreibend. Der Autoanhänger mit dem Fangmaterial kommt nicht weiter als bis zum Miststock eines Bauernhofes ob Diemtigen. Von hier aus heisst es schleppen: Die schweren Netze, Dutzende Netzstangen aus Haselholz und Boxen, in denen sich allenfalls gefangene Rehe beruhigen könnten, müssen durch den noch knöchelhoch liegenden Märzschnee zum Fangplatz gebracht werden.
Rehe sind wachsame Tiere – sie schlafen nur für jeweils ganz kurze Perioden
Dort, in zum Teil steilstem Gelände, wird die Falle gestellt. Wir rollen die insgesamt mehrere Hundert Meter langen Netze aus und befestigen sie alle zehn Meter an einer Haselstange. «Die Netze dürfen aber nur auf die Netzstangen gelegt werden», sagt Mirjam Pewsner, die Tierärztin im Team. Denn das Reh soll das Netz umreissen, wenn es sich darin verfängt – andernfalls wäre die Verletzungsgefahr für das Tier zu gross.
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Hier wird ein junges Reh mit einem Sender ausgestattet. Bild: Rehprojekt |
Das Reh zählt zu den häufigsten und bestdokumentierten Tieren überhaupt in den Schweizer Wäldern. Jedes Jahr schiessen die Jäger rund 40 000 Rehe ab. Sie beobachten die Tiere jahraus, jahrein. Seit 1970 werden schweizweit jährlich mehrere Hundert Rehkitze markiert. Werden diese Tiere später tot aufgefunden oder geschossen, lassen sich Rückschlüsse auf die Lebensweise der Art ziehen. So weiss man, dass Rehe grundsätzlich standorttreu sind. In einigen Fällen können sie sich aber auf Wanderungen begeben, die sie Dutzende Kilometer von ihrem Geburtsort wegführen.
Auch punkto Ernährung ist das Reh beileibe kein unbeschriebenes Blatt. Wiesenkräuter stehen ebenso auf seinem Speiseplan wie junge Triebe von Fichte, Tanne oder Buche. Auf Nahrungssuche geht das Reh bei Tag und Nacht. «Es durchläuft jeden Tag mehrere Zyklen, während derer es Futter sucht, äst, wiederkäut und ruht», erklärt Gehr. Ein fester Schlaf ist auf wenige, kurze Perioden beschränkt. Man ist versucht zu sagen: Das Reh ist sein ganzes Leben lang auf der Hut.
Besonders wachsam scheinen die Wiederkäuer im Diemtigtal zu sein. Gerade als wir die letzten Netze vorbereiten, taucht ein Reh auf. 200 Meter vor uns macht es Halt, beäugt uns kurz und prescht dann davon. Wir sind aufgeflogen! Zeit für eine Mittagspause. Danach teilen wir uns in zwei Gruppen auf und hoffen, dass die Rehe uns in der Zwischenzeit vergessen haben. Die Fänger verstecken sich in unmittelbarer Nähe der Netze und warten, bis die Treiber die Tiere Richtung Netze scheuchen. Verfängt sich ein Reh in den Maschen, eilen die Fänger herbei, befreien es und bringen es in einer der Boxen unter, wo es sich dann beruhigen soll.
Jäger und Wildhüter vermuten, dass Rehe wegen des Luchses scheuer geworden sind
Noch vor etwas mehr als 100 Jahren hätten wir gar nicht versuchen können, Rehe zu fangen: Es gab in der Schweiz schlicht keine mehr. Das Reh war ausgerottet – ebenso wie sein ärgster Feind, der Luchs. Bei der Wiederansiedelung Anfang des 20. Jahrhunderts hatte das Reh – als dem Menschen «nützliche» Tierart – die Nase vorn. Während es rasch wieder Fuss fasste, gelang die Wiederansiedelung des Luchses erst Anfang der 1970er-Jahre. Ohne den Luchs führten die Rehe ein Herrenleben; erwachsene Tiere mussten eigentlich nur noch Menschen fürchten; den Jäger, der ihm nur im Herbst gefährlich wird, und den Autofahrer.
«Heute leben wieder etwa 160 selbstständige Luchse in der Schweiz», sagt Fridolin Zimmermann, Wildbiologe beim Programm KORA, welches die Raubtierpopulationen in der Schweiz überwacht und erforscht. Das Reh sei mit Abstand das wichtigste Beutetier für den Luchs. Im Jura mache es etwa 70 Prozent seiner Mahlzeiten aus, in den Alpen – wo mehr Gämsen leben – etwa 50 Prozent. «Im Schnitt schlägt der Luchs etwa ein grösseres Beutetier pro Woche», sagt der Wildbiologe.
Das scheint Folgen zu haben. Jäger und Wildhüter berichten, die Rehe seien scheuer geworden, seit der Luchs da ist. Um solche wissenschaftlich ungesicherten Aussagen zu überprüfen, vergleicht Benedikt Gehr nun Rehe in luchsreichen Gebieten im Berner Oberland mit solchen, in denen weniger Luchse leben. So will er dem Einfluss des Luchses auf die Schliche kommen und herausfinden, ob sich die Schweizer Rehe auf diese alte Gefahr neu einstellen konnten. «Es könnte zum Beispiel sein, dass Rehe wegen des Luchses ihr Habitat anders nutzen», sagt Gehr. Oder dass sie sich noch weniger Ruhepausen gönnen und ständig unter Stress stehen. Den Stresspegel können die Forscher anhand von Hormonen im Rehkot ablesen.
Wegen der Jagd und der Kitzsaison finden die Fangaktionen im Winter statt
Gehr ist bewusst, dass nicht nur der Luchs, sondern auch er mit den Fangaktionen Angst unter den Rehen verbreitet. Deswegen muss er schon mal Kritik aus der Bevölkerung einstecken. Gerade dass die Fangaktionen im Winter stattfinden, wenn die Tiere durch Kälte und Hunger sowieso schon geschwächt sind, können einige Leute nicht verstehen. «Die Fangaktionen sind für die Rehe sicher mit grossem Stress verbunden», räumt Gehr ein. Doch er sei der Meinung, dass der aus der Studie resultierende Erkenntnisgewinn den kurzzeitigen Stress für die Tiere rechtfertige. Stattfinden müssen die Fangaktionen im Winter. Denn von Mitte März bis August sind zuerst die Rehgeissen trächtig und dann folgt die Kitzsaison. Von September bis November ist wegen der Jagd nicht an ein Fangen zu denken.
Insgesamt haben Gehr und seine Helfer seit November 2011 bereits 97 Rehe besendert. Nicht nur mit der Netzmethode: Zusätzlich haben die Forscher Kastenfallen aufgestellt und Rehkitze an ihrem Geburtsort aufgespürt. «Für Ergebnisse ist es aber noch zu früh, dafür brauchen wir noch mehr Daten», sagt Gehr.
Aus diesem Grund stehen wir heute am Hang ob Diemtigen. Unsere sechs Rehe sind inzwischen losgetrottet, genau in die Richtung, in der wir sie haben wollen. Sie durchqueren das steile Gelände scheinbar mühelos. Es ihnen gleichzutun, ist nicht einfach. Ich kämpfe mich durch ein kleines Waldstück hoch und warte dann, ganz ausser Atem, auf weitere Anweisungen. Lange Minuten geschieht nichts. Dann die Durchsage: «Die Rehe sind weg, an den Netzen vorbei entwischt.» Die Enttäuschung steht den Rehfängern ins Gesicht geschrieben. Doch nicht für lange. Denn sie alle wissen: Manchmal sind Tiere eben cleverer als wir Menschen. Und die nächste Chance, ein Reh zu fangen, kommt bestimmt.
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