Frau Calzavara, macht es Ihrer Meinung nach Sinn, dass gewisse Hunderassen gelistet werden?

Meiner persönlichen Meinung nach macht das keinen Sinn. Ich bin der Überzeugung, dass es keine von Grund auf gefährlichen Hunde gibt. Trotzdem muss man den Ursprung dieser Listen verstehen: Im Kanton Basel-Stadt etwa – einem der ersten, der eine Liste eingeführt hat – wurden immer mehr Hunde aus dem Ausland importiert. Viele wurden schlecht gehalten oder waren sogenannte Kampfhunde, die für Hundekämpfe ausgebildet wurden. Es entstand ein Milieu, das in der Stadt gut spürbar war. So kam es immer öfters zu Vorfällen und Problemen mit gewissen Rassen, weshalb man nach Lösungen suchte.

Gibt es Hunde, die von Geburt an aggressiv sind?

Jein. Gewisse haben, je nach Rasse, ein grösseres Grundpotenzial für Aggressivität. Und je nachdem, wie sich der Hund entwickelt, kann sich diese stärker ausprägen. So, dass man sie irgendwann nur noch schwer kontrollieren kann.

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Weshalb spielt die Rasse eine so grosse Rolle? Schliesslich ist doch jeder Hund ein Individuum.

Hunderassen werden auf einen bestimmten Phänotyp hin, zu einem bestimmten Zweck gezüchtet. Wenn man zum Beispiel einen kräftigen Hund wollte, hat man sich auf diese Eigenschaft konzentriert. Ein Schäferhund etwa hat schon nur aufgrund seiner scherenartigen Zahnstellung weniger Bisskraft als ein Pitbull, bei dem die beiden Kieferhälften genau aufeinander passen. Man hat zudem festgestellt, dass die Kaumuskulatur auch stark mit der Masse des Hundes zu tun hat.

Grössere Hunde können also kräftiger zubeissen. Aber das heisst ja nicht, dass sie es deshalb auch öfters tun.

Genau. Aber bei den Kampfhunden hat man auch auf den Charakter hin selektiert: Jene, die schneller und heftiger auf ihren Gegner oder auf die herumrennenden Ratten reagiert haben, wurden bevorzugt. Entsprechend zeigt sich diese Eigenschaft auch bei ihrem Nachwuchs verstärkt.

Aggressivität ist also vererbbar?

Zu einem gewissen Teil wird diese über die Genetik bestimmt, ja. Aber deutlich wichtiger sind das Umfeld und die Haltung des Hundes. Man sagt, dass etwa 30 bis 50 Prozent des Wesens durch die Genetik bestimmt werden – alles andere ist Sozialisierung und Erziehung. Hinzu kommt eine Vielzahl an Faktoren, die auf die Aggressivität eine Auswirkung haben. So fand man etwa heraus, dass Geschlecht, Lebensphase, ja sogar die Tageszeit einen Unterschied machen können. Ein Dämmerungsjäger etwa ist aggressiver, sobald es eindunkelt. Und auch äussere Einflüsse, wie etwa Schmerzen, sind entscheidend.

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Rein von der Grundausstattung her ist ein Pitbull also tatsächlich gefährlicher als ein Golden Retriever?

Jetzt müssen wir vorsichtig sein. Aggressivität bedeutet nicht, dass der Hund automatisch auch gefährlich ist. Stattdessen handelt es sich dabei meist um ein ganz natürliches Verhalten. Es gibt verschiedene Arten von Aggressivität, etwa wenn der Hund etwas verteidigt, eine Hündin ihre Welpen zum Beispiel, oder wenn es sich um Beutegreifer handelt. Gefährlich wird dieses Verhalten erst, wenn wir es als Menschen nicht richtig lesen können und deshalb falsch reagieren. Wenn ein Hund beispielsweise ein Kind anknurrt, weil dieses eine Grenze überschritten hat, und es dann anfängt zu schreien oder gar wegrennt – so etwas kann durchaus gefährlich werden. Als «gefährlich» bezeichnen wir nur jenes Aggressionsverhalten, das andere oder das Tier selbst gefährdet.

Sie sprechen Vorfälle mit Kindern an. Wie lassen sich diese vorbeugen?

Begegnet man einem Hund, der sich aggressiv verhält, sollte man auf jeden Fall ruhig bleiben. Nicht einfach wegrennen und auch nicht selbst aggressiv werden. Manchmal hilft es bereits, den Hund anzusprechen, also einfach mal «Hallo» sagen. Eine generelle Lösung gibt es aber nicht, dafür gibt es schlicht zu viele unterschiedliche Situationen. Umso wichtiger ist es, dass das Gespann Mensch und Hund stimmt. Ein reaktiver Hund kann in der Hand kompetenter Halter kein Problem darstellen, bei anderen hingegen schon. Ich hatte etwa einmal mit einem Rottweiler zu tun, der eigentlich ein sozialverträglicher Hund und typischer Rassevertreter war, aber dessen aggressive Verhaltensweisen von seinem Herrchen gefördert wurden. Und so wurde er seinem Umfeld tatsächlich gefährlich und es kam zu einem Vorfall. Der Hund wurde später umplatziert und ist heute ein wunderbar zutraulicher Geselle.

Also steht das Problem meist am anderen Ende der Leine?

Heutzutage haben die Menschen oft falsche Erwartungen und wissen zu wenig über den Hund, den sie sich ins Haus holen. Meist geht es nur um das Aussehen oder darum, einem Trend zu folgen. Deshalb sollte man sich vor der Anschaffung über die eigenen Ansprüche klar werden: Was will ich? Wie sollte der Hund sein? Wo hat er Platz in meinem Leben? Und dann schauen, welche Rasse dazu passt. Tierheime und Rasseklubs beraten sicher gerne. Am Ende ist es nämlich der Mensch, der den Hund macht.

Zur PersonDr. Gabriela Calzavara-Guldener ist Vorstandsmitglied der Schweizerischen Tierärztlichen Vereinigung für Verhaltensmedizin (STVV). 25 Jahre war sie in der Praxis tätig und arbeitete fast 14 Jahre als Amtstierärztin St. Gallens. Sie hat nicht nur zahlreiche verhaltensauffällige Hunde begutachtet, sondern auch geholfen, das neue Hundegesetz mitzugestalten. Aktuell arbeitet sie bei der Kantonsapotheke und ist Mitglied des Gesundheitsrates. Sie hat zwei erwachsene Kinder.