Frau Thürmer, Sie sind 60 000 Kilometer gewandert, 30 000 Kilometer Fahrrad gefahren und 6500 Kilometer gepaddelt. Wie ist es dazu gekommen?

2003 bin ich aus meinem Job geflogen und habe dann beschlossen, den Pacific Crest Trail in den USA zu wandern. Danach kam ich zurück und habe noch zweieinhalb Jahre für eine Schweizer Firma gearbeitet, bis ich wieder gekündigt wurde. Zeitgleich starb ein guter Freund an den Folgen eines Schlaganfalls. Und so bin ich wieder wandern gegangen und habe draussen auf dem Trail das Glück gefunden. Die meisten Menschen hätten eine neue Stelle gesucht, ich habe das Scheitern als Chance gesehen. Viele Leute erfinden Gründe, warum sie etwas nicht machen können. Die Botschaft, die ich den Menschen mitgeben möchte, ist die: Erfüllt euch eure Träume, das Leben ist kurz.

Sie waren vor Ihrer Wanderkarriere erfolgreiche Managerin. Ist es Ihnen schwergefallen, die gesellschaftlichen Erwartungen hinter sich zu lassen?

Gesellschaftliche Erwartungen waren mir schon immer egal. Ich war beruflich in einer Männerdomäne und dass man als Frau in so einer Position wie meiner Karriere macht, ist schon eher ungewöhnlich. Von meinem Vorgänger in einem Job hätte ich einen BMW übernehmen sollen, ich wollte aber lieber mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, meine Büroklamotten waren von H&M.

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Sie waren bereits in 40 Ländern unterwegs. Gehen Ihnen denn nicht die Ideen für weitere Touren aus?

Je mehr ich unterwegs bin und je mehr ich sehe, umso mehr Ideen bekomme ich. Ich wandere ja nicht nur, sondern paddele und fahre auch Fahrrad. Ich könnte mit meinen Ideen die nächsten fünf Jahre bespielen und führe sogar eine Liste zu Hause, damit ich den Überblick nicht verliere. Wenn ich heute tot umfallen würde, hätte ich aber nicht das Gefühl, etwas verpasst zu haben, weil ich zu jedem Zeitpunkt etwas gemacht habe, was ich zu dem Zeitpunkt auch gerne gemacht habe.

Wie kann man es schaffen, mehrere Monate am Stück zu Wandern, ohne die Lust darauf zu verlieren?

Wenn ich Leute berate, dann sage ich ihnen, dass sie eine Tour nicht wie einen Urlaub, sondern wie einen Job betrachten müssen. Dann sind die meisten erstmal perplex. Legt man aber alle Hoffnungen in eine Tour, dann wird man irgendwann frustriert, wenn etwas schief geht. Und das wird es früher oder später. Wenn man es aber wie einen Job ansieht, hat man nicht die Erwartungshaltung, dass jeder Tag perfekt sein muss. Nur so kann man Langzeittouren überleben.

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Wandern mit einem Job zu vergleichen, klingt pragmatisch. Hat das Wandern für Sie also nichts mit der Suche nach einem tieferen Sinn zu tun?

Ich sage immer, wer sich unterwegs finden will, der hat eigentlich schon verloren. Unterwegs regnet es, man läuft sich Blasen und die Leute in der Unterkunft schnarchen. Zusammen mit den Problemen, die sie von zu Hause mit sich rumschleppen, brechen viele Leute ab, weil es ihnen zu viel wird. Je länger eine Tour geht, umso wichtiger ist es, dass man mit sich selbst im Reinen ist. Unternehmungen à la Hape Kerkeling sind mit Vorsicht zu geniessen. Die Menschen glauben, wenn sie ein Problem haben, dass sie in die unberührte Natur müssen, einen Baum umarmen und dann würde die Weisheit wie Manna vom Himmel fallen.

Das heisst, Wandern ist kein Rezept zum Glück?

Wandern macht glücklich, aber anders, als die Werbung das darstellt. Das Glück liegt in der Reduzierung auf das Minimum. Schläft man mehrere Nächte auf einer wenige Millimeter dicken Isomatte und hält sich durch Katzenwäschen sauber, freut man sich plötzlich riesig auf einen Aufenthalt im Hotel mit einer Dusche und wohlduftendem Duschgel. Man muss aber erst einmal durch das Tal der Tränen gehen, um dieses Glücksgefühl zu erreichen. Die Natur ist nur die Kulisse.

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Sie haben auf Ihren Europawanderungen auch schon die Schweiz durchquert. Hat es Ihnen hier gefallen?

Die Schweiz ist wirklich schön, aber zum Wandern nicht mein Lieblingsland. Ich stehe auf Länder, wo nicht jeder hinwill, zum Beispiel Rumänien oder Bulgarien, wo man wirklich etwas entdecken kann. Die Schweiz ist schon fast zu perfekt. Die Wanderwege sind wunderbar markiert, was einerseits sehr toll ist, andererseits gibt es kaum mehr etwas zu erforschen. Das zweite Problem ist, dass die Schweiz teuer ist. Ich liebe Schokolade und esse vier Tafeln am Tag. Das wird auf Dauer kostspielig.

Haben Sie einen Lieblingswanderweg?

Die Via Transilvanica hat es mir in jeder Hinsicht angetan. Rumänien ist ein billiges Land, geschichtlich wahnsinnig interessant und es gibt dort die letzten Urwälder Europas. Mit Hilfe von Tausenden Freiwilligen wurde der 1400 Kilometer lange Weg von der Non-Profit-Organisation Tășuleasa Social innerhalb von vier Jahren ohne staatliche Unterstützung geschaffen. Jeder Kilometer des Weges ist zusätzlich durch einen Meilenstein mit rumänischer Kunst darauf markiert. Es ist nicht das All-inclusive-Wandererlebnis, aber eines, das sich wirklich lohnt.

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Unzählige Tierbegegnungen und bisher nur ein Hundebiss in Schweden. Wie gefährlich sind Tiere beim Wandern?

Am meisten habe ich nicht Angst vor Bären und Wölfen, sondern vor Zecken. Ich habe mehrere Borreliosen hinter mir. Das ist sozusagen meine Berufskrankheit. Das Hauptproblem für Wanderer sind Insekten, Zecken, Hunde und Kühe. In England bin ich auf der Zeltplatzsuche in einem Anflug von geistiger Vernebelung unter einem Zaun durchgeklettert und hätte mich über die Kuhfladen wundern müssen. Plötzlich war ich von Dutzenden neugieriger Stiere umrundet. Die waren noch jung und wollten nur spielen. Ich aber bin in einem Schweinsgalopp über die Weide gerannt und über den Zaun gesprungen. Ich musste dann erstmal tief Luft holen.

Das heisst, ich muss mir keine Sorgen um wilde Raubtiere oder Giftschlangen machen?

Begegnungen mit wilden Tieren hatte ich einige. Grizzlybären in Alaska, Alligatoren in Florida und diverse Klapperschlangen. In jeder Grossstadt bin ich allerdings gefährdeter als in der Natur. Ich will das Risiko nicht kleinreden, aber die Chance, von einem Bären angegriffen zu werden, ist statistisch viel kleiner, als einen Unfall zu bauen, während ich mit dem Auto zur Arbeit fahre. Die Gefahren in der Natur werden überbewertet. Eine Klapperschlange zum Beispiel hat ja kein Interesse an meinem Fleisch. Sie sagt sich eher: Aha, Christine Thürmer, 90 Kilogramm Lebendgewicht, die kann ich nicht verdauen. Die harmlosesten Tiere können übrigens nachts die lautesten Geräusche machen.

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Sie verbringen sechs bis acht Monate im Jahr draussen im Zelt. Ist es nicht unheimlich, nachts ganz allein in einem Wald zu schlafen?

Menschen nehmen oft nur das wahr, was sie auch erwarten. In Frankreich lag ich keine zwei Meter von einem Weg entfernt und wurde durch laute Männerstimmen geweckt. Ich war in eine nächtliche Militärübung geraten. Insgesamt zwölf Mann mit Stablampen haben mich und mein Zelt trotzdem nicht entdeckt, denn wer rechnet schon damit, dass neben dem Trampelpfad mitten im Wald jemand übernachtet. Die meisten gruseligen Situationen lösen sich in Wohlgefallen auf und das meiste spielt sich sowieso im Kopf ab.

Sie sind ab November auf Explora-Vortragstour in der Schweiz. Was erwartet uns in Ihrer Show?

Was ich da erzähle, ist ein Gute-Laune-Vortrag und es ist anders, als man es erwarten würde. Ich erzähle keine Heldengeschichten, sondern nehme mich selbst auf den Arm. Man läuft nachher gut gelaunt aus dem Saal heraus und sagt sich: So was will ich auch machen.

 

Die Grosse Trail-Show

Mo, 20.11.2023, Luzern Messe, 19.30 Uhr

Di, 21.11.2023, Cham Lorzensaal, 19.30 Uhr

Mi, 22.11.2023, Zürich Volkshaus, 19.30 Uhr

Do, 23.11.2023, Winterthur gate27, 19.30 Uhr

Sa, 25.11.2023, Nottwil Paraplegiker Zentrum, 19.30 Uhr

So, 26.11.2023, Aarau KUK, 17.00 Uhr

Di, 28.11.2023, Basel Volkshaus, 19.30 Uhr

Mi, 29.11.2023, Bern Freies Gymnasium, 19.30 Uhr

Do, 30.11.2023, Jona Kreuz, 19.30 Uhr

Fr, 1.12.2023, Chur Titthof, 19.30 Uhr

Sa, 2.12.2023, Thun Burgsaal, 19.30 Uhr

So, 3.12.2023, Rorschach Würth Haus, 13.00 Uhr