Tiermedizin
Kleiner Schnitt, grosse Wirkung
Ein Paradigmenwandel zieht am tiermedizinischen Himmel auf: Bis vor wenigen Jahren wurden Hunde fast routinemässig kastriert. Doch nun mahnen Experten zur Vorsicht.
Die Gründe, die Hundehalter zur Entfernung der Hoden beziehungsweise Eierstöcke ihrer Vierbeiner bewegen, sind mannigfaltig und meist prophylaktischer Natur. Oft hoffen Halter dadurch Verhaltens-problemen ihres Hundes beizukommen. Nun zeigen aber neueste amerikanische Datenerhebungen, dass kastrierte Hunde tendenziell aggressiver, ängstlicher, aufgeregter und schlechter trainierbar sind als nicht kastrierte. Insbesondere solche, die noch im ersten Lebensjahr kastriert worden waren, stachen vermehrt als verhaltensauffällig heraus.
In der Schweiz dürfen Hunde wegen Verhaltensproblemen kastriert werden. «Das Veterinäramt kann die Kastration bei auffällig gewordenen Hunden sogar anordnen», erklärt Sonja Doll Hadorn, Zoologin und Verhaltenstherapeutin im Kanton Zürich. Die Annahme, dass Kastration das Mittel der ersten Wahl ist, um unerwünschtes Verhalten zu reduzieren, sei heute allerdings zum Glück überholt. «Die Erfahrung hat gezeigt, dass in vielen Fällen die erhoffte Verhaltensänderung nicht eintraf oder sich die Situation gar verschlimmerte.»
Je früher, desto schlechter
Gerade die Frühkastration steht unter Beschuss. Heute weiss man, dass sie negative Folgen für die spätere Gesundheit des Tieres hat. Zudem spielen Geschlechtshormone bei der Entwicklung eine wichtige Rolle. «Die in der Pubertät entfachte Mischung aus Wachstumshormon und Nervenwachstumsfaktor, Sexual- und Stresshormonen bewirken im Gehirn des jugendlichen Hundes eine Restrukturierung: Wenig gebrauchte Verknüpfungen werden abgebaut, häufig beanspruchte Regionen vergrössert und effizienter gestaltet», sagt Doll Hadorn. Insbesondere betroffen seien Bereiche, die in Zusammenhang mit sozialer Kompetenz und Beziehungsverhalten stünden. «Das Lebewesen wird somit vermehrt auf rationales statt auf emotionales Handeln vorbereitet.» Eine frühe Kastration vor Abschluss der körperlichen und psychischen Reife – die bei grossen Rassen bei 4 bis 5 Jahren liegt – könne man Hunden daher oft am Verhalten anmerken.
Für den Hund kann dies einschneidende Folgen haben: Fallen die Geschlechtshormone weg und steigt aufgrund eines traumatischen Erlebnisses unmittelbar vor der Pubertät die Konzentration von Cortisol stark an, wird die Ausbildung der Hirnstrukturen unter Umständen so stark beeinflusst, dass der Hund «zeitlebends emotional unstabil, bezüglich Lernverhalten und Gedächtnis eingeschränkt und oft krankheitsanfällig» wird, warnt Doll Hadorn.
Vorsicht bei Aggressionen
Die Hoffnung, dass Rüden ruhiger werden, ist oft Vater des Kastrationsgedankens. Doll Hadorn kennt die Problematik zum Beispiel beim für Hundebesitzer leidigen Jagdtrieb: «Mit dem Verhaltenskomplex des Jagens hat Testosteron jedoch kaum zu tun.» Die Verhaltenstherapeutin rät hier von der Kastration ab: «Tatsächlich kann durch Kastration insbesondere bei Rüden eine Steigerung der Jagdambition beobachtet werden, da sie sich auf dem Spaziergang weniger für Artgenossen und deren Duftmarken interessieren.»
Auch an der von Hundehaltern oft als unangenehm empfundenen Angewohnheit des Aufreitens ändert die Kastration meist wenig. «Aufreiten ist ein sehr vielseitig auftretendes Kommunikationssignal unter Hunden, das oft nicht sexuell motiviert ist», sagt Doll Hadorn. Bei Hündinnen könne sich die Häufigkeit nach der Kastration sogar erhöhen.
Zeigt der Hund Aggressionen, hoffen viele Hundebesitzer das Problem per Kastration in den Griff zu bekommen. Doch laut Studien zeigen kastrierte Hündinnen mehr aggressives Verhalten als nicht kastrierte. Selbst bei sexuell bedingten Aggressionen kann eine Kastration «bei Hündinnen auch das Gegenteil bewirken, wobei sich ihre Aggression dann auch gegen männliche Kastraten richten kann», sagt Doll Hadorn.
Ob das aggressive Verhalten eines Hundes letztlich wirklich sexuell bedingt und somit durch Kastration eventuell vermindert werden kann, ist zudem unklar. «Aggressionen sind häufig multifaktoriell bedingt, sehr oft aufgrund von Unsicherheit, Angstproblematiken, gesundheitlichen Problemen oder Kommunikationsproblemen», erklärt Maya Bräm Dubé, Veterinärin und Verhaltensmedizinerin. Eine Kastration nur aus Verhaltenssicht sei daher nur selten angezeigt.
Es ist nie zu spät
Generell sei eine gezielte Beeinflussung von Verhalten unmöglich, da dieses von genetischen, gesundheitlichen sowie erlernten Faktoren und Umweltfaktoren abhänge, sagt Bräm Dubé. Nur rein sexuelle Verhaltensweisen könnten durch Kastration gemindert werden: Sei der Rüde durch läufige Hündinnen so stark mitgenommen, dass er stets aufreite, im Haus und draussen markiere, ausbüxe, nicht mehr fresse und schlafe sowie kaum mehr ansprechbar sei, dann sei eine Kastration angebracht, sagt die Verhaltensmedizinerin. Doch auch hier gibt es keine Erfolgsgarantie. Gemäss der amerikanischen Studie ist bei Rüden in einem solchen Fall nur eine 50- bis 90-prozentige Verbesserung zu erwarten.
Angst, dass es für eine Kastration irgendwann zu spät sein könnte, brauchen Hundehalter jedenfalls nicht zu haben. «Meistens nimmt das sexuelle Interesse an Artgenossen und damit verknüpfte Verhaltensweisen mit der Zeit auch nach einer späten Kastration ab», beruhigt Doll Hadorn. «In akuter Reizsituation wie zum Beispiel der Anwesenheit einer läufigen Hündin kann der Hund aber wie früher reagieren.» Bereits erlerntes Verhalten könne durch entsprechendes Lerntraining umgeformt werden.
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