Kleinste Kuhrasse Mitteleuropas
Die Hinterwälder Rinder sind auch im steilen Gelände trittsicher
Das Hinterwälder Rind ist ausgezeichnet an die gebirgige Schweizer Landschaft angepasst. Neben seiner Geländegängigkeit bringt sie zahlreiche weitere Qualitäten mit. Landwirt Andreas Schneider aus Walkringen BE erzählt, wie er in den Bann der kurzbeinigen Rotbunten kam und sie auf seinem Milchviehbetrieb einsetzt.
Das letzte Wegstück hat es in sich. Der kurze, aber knackige Aufstieg vom Biglental zum Hof Enetbiglen geht ganz schön in die Knie. Und blickt man die stotzigen Weiden am Hang des Emmentaler Hügelzuges hoch, fragt man sich, wie hier Kühe grasen sollen. Andreas Schneider hat nach einigem Ausprobieren die perfekte Lösung gefunden: die gebirgserprobten Hinterwälder Kühe. Diese waren hier nicht immer heimisch.
Seit 1994 führt das Ehepaar Schneider den Hof. Die Milchproduktion stand seit Beginn im Vordergrund, ursprünglich mit dem klassischen Swiss Fleckvieh. Der Wunsch nach einer robusteren Kuh wurde immer grösser. «Ich hatte es leid, jeden Morgen mit einem mulmigen Gefühl in den Stall gehen zu müssen, ob nicht wieder eine Kuh festgelegen ist», erklärt Schneider. Ein Homöopathiekurs gab den Ausschlag, nach einer Rasse zu suchen, die nicht einmal solche Behandlungen benötigt. Dieses Kriterium schienen entweder das Rätische Grauvieh oder die Hinterwälder Rinder zu erfüllen. Da die rot-weissen Kühe die Schneiders rein optisch mehr ansprachen, fiel die Wahl auf die Hinterwälder.
Diese Rinder kamen ursprünglich in verschiedenen Tälern des Alpenraumes vor. Sie erhielten ihren Namen vor rund 150 Jahren, als man innerhalb des Wälderviehs zwischen den Hinterwäldern und ihrer grösser gewachsenen Schwesternrasse, den Vorderwäldern, zu unterscheiden begann. Bald konzentrierte sich deren Vorkommen auf die Höhenlagen des südlichen Schwarzwaldes. Dieses räumlich isolierte, hinter dem Wald versteckte Vorkommen war in diesem Fall nicht negativ, denn es bot Schutz vor der Rinderpest, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Bestände anderer Rassen massiv dezimierte. Und selbst die Weltkriege konnten den kleingewachsenen Rindern nicht viel anhaben.
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In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wegen der Zucht von immer leistungsstärkeren Milch- oder Fleischrindern, drohte die Kleinrasse allerdings auszusterben. Ein Restbestand existierte nur noch im Schwarzwald, in den 1970er-Jahren wurde die Rasse als gefährdet eingestuft. Es ist einigen engagierten Züchtern aus der Schweiz zu verdanken, dass die Hinterwälder erhalten blieben. Sie importierten Anfang der 1980er-Jahre gemeinsam mit der Stiftung Pro SpecieRara einige Tiere aus dem süddeutschen Raum und machten die Hinterwälder nach 100-jähriger Abwesenheit in der Schweiz wieder heimisch. Heute hat sich der Bestand hierzulande erholt, die robusten Rotbunten sind vor allem in der Innerschweiz, im Emmental und im Berner Oberland immer häufiger anzutreffen.
«Bei einem BEA-Besuch wurde ich auf die Rasse aufmerksam und konnte erste Kontakte mit Züchtern knüpfen», erzählt Andreas Schneider. Das erste Hinter-wälder Kalb erwarb er 2006. Die Umstellung sollte sukzessive vonstattengehen, sodass erst zehn Jahre später die gesamte Herde, die aktuell rund 40 Tiere umfasst, aus dieser Zweinutzungsrasse bestand. Bioorganisch produzierte der Hof Enetbiglen, auf dem noch eine kleine Menge Kartoffeln und Hopfen angebaut wird, damals schon lange. Mit dem Wechsel von Hochleistungsmilchkühen auf die noch halb so schweren und halb so ertragbringenden Hinterwälder war die Hofabfuhr der Milch in Frage gestellt. «Es lohnte sich schlicht nicht mehr, für die paar Tropfen Milch extra zu uns hochzufahren», schmunzelt der Landwirt.
Steckbrief Hinterwälder RindAussehen: Braun/rot-weiss gesprenkelt, gescheckt oder gedecktes Fell. Der Kopf ist immer weiss, die Ohren braun und manchmal ist auch die Augenpartie braun eingefärbt. Die Hörner sind lyraförmig geschwungen. Sie ist eine kleine und leichte Kuh.
Eigenschaften: Temperamentvoll und klug. Widerstandsfähig mit hoher Lebenserwartung. Lebhafter Gang, auch in steilem Gelände sehr trittsicher. Gute Raufutterverwerter, gute Fruchtbarkeit und problemloses Abkalben.
Nutzung: Milch, Fleisch, Landschaftspflege
Eine Umstellung bedingt die andere
Vor vier Jahren fiel der Entschluss, auf biodynamische Produktion umzustellen. Ausschlag dafür gab auch, dass die Milchmanufaktur «Biomilk» im nahegelegenen Worb nach Milchlieferanten von Demeter-Betrieben suchte. So bringt der Hof Enetbiglen seine Milch zur Chäsi Worb, wo sie teils zu Joghurt oder Quark und bald auch zu Käse verarbeitet wird.
Zwar seien die Hinterwälder deutlich agiler und aufgeweckter als die grossrahmigen Milchkühe, das Melken und der Umgang mit ihnen sei aber unkompliziert. Darüber sind sich Andreas Schneider und seine Lehrtochter einig. «Wenn man sich bereits mit dem Jungvieh abgibt und sie an den Menschengewöhnt, erleichtert das die spätere Zusammenarbeit mit den aufgeweckten Kühen», findet der Landwirt. Die Tiere, von denen in Schneiders Herde die allermeisten behornt sind, verlieren so ihre Scheu. Hinterwäldertypisch gehen sie dann mit einer gesunden Neugier auf ihre Betreuer zu, wobei sie nie aufdringlich werden.
Selbst Stier Lord, der zur Blutauffrischung zugekauft wurde und mit der Herde mitläuft, macht einen umgänglichen und zutraulichen Eindruck. Die Kraft des verglichen mit anderen Rassen kleinen Herrn ist aber nicht zu unterschätzen. Bei einer Widerristhöhe von rund 130 Zentimetern bringen Hinterwälder Stiere ein Gewicht von bis zu 750 Kilogramm auf die Waage. Damit sind sie doppelt so schwer wie eine Kuh. Bei den weiblichen Rassevertreterinnen variiert die Grösse zwischen zirka 110 bis 120 Zentimetern.
Schon gewusst?
Von einst 35 dokumentierten Schweizer Rassen überlebten nur fünf: das Original Braunvieh, das Eringer Rind, das Original Simmentaler Fleckvieh, das Evolèner Rind sowie das Rätische Grauvieh. Die alten Rassen wurden von neuen Zuchtlinien verdrängt, die viel Milch oder schnell viel Fleisch produzieren. Heute sind die Urgesteine in der extensiven Landwirtschaft wieder gefragter. Sie liefern zwar einen kleineren Ertrag, dafür muss auch deutlich weniger an Futter oder Tierarztkosten investiert werden. Die Evolèner und das Rätische Grauvieh werden aufgrund ihrer Gefährdung zusammen mit den Hinterwälder Rindern von ProSpecieRara gefördert.
prospecierara.ch
Anja gibt den Ton an
Lord hat trotz seines imposanten Auftretens nicht das alleinige Sagen auf dem Hof. Auch Leitkuh Anja will ein Wörtchen mitreden, wenn es um herdeninterne Fragen geht. Die Rangordnung in einer Hinterwäldergruppe sei sehr strikt, berichtet Andreas Schneider. So steht die bereits 16-jährige und damit älteste Kuh des Hofs Enetbiglen schon einige Jahre an der Spitze der Truppe. Anja hat 14 Kälbern das Leben geschenkt und ist auch vom Exterieur her ein Paradeexemplar einer Hinterwälder Kuh. Mit ihrem gescheckten Fell, dem weissen Kopf mit den braun abgesetzten Ohren und den schön geschwungenen Hörnern ist sie eine adrette Erscheinung. Kaum verständlich also, dass sie vom Vorbesitzer in die Metzg geschickt werden wollte, als dieser seinen Bestand auf Grauvieh umstellte.
«Die Hinterwälder werden etliche Jahre älter als sonstige Milchkühe.»
Nicht nur Anja überzeugt mit ihrer Langlebigkeit. «Die Hinterwälder werden etliche Jahre älter als andere Milchkühe, natürlich auch weil sie weniger intensiv genutzt werden», weiss Schneider. Den geringeren Milchertrag machen sie neben der höheren Lebenserwartung auch mit tieferen Tierarztkosten wett. Weitere Vorteile sieht Andreas Schneider in den geringen Futteransprüchen, sei es was die Menge, aber auch die Qualität des Heus betrifft. Nur den Kälbern gibt er jeweils etwas Kraftfutter. «Da sie sechs Wochen bei der Mutter bleiben dürfen, würden sie uns sonst in dieser Zeit kaum mehr etwas zum Melken übriglassen», grinst Schneider. Die Fruchtbarkeit lasse keinerlei Wünsche offen – Probleme, dass eine Kuh nicht aufnehme, hätte er mit den Hinterwäldern noch nie gehabt, bestätigt der begeisterte Züchter. Und die Geländegängigkeit der leichten Kühe sei erstaunlich. Dem Alphirten, der im Sommer jeweils einen Teil der Herde betreut, stach der Unterschied zwischen den Simmentalern, die auf derselben Alp weiden, und den Hinterwäldern sofort ins Auge. Auf den Weiden beim Hof haben Schneiders bemerkt, dass die Grasnarbe kaum Schaden nimmt. Selbst im vergangenen, sehr nassen Sommer waren die Kühe jeden Tag draussen und hinterliessen wegen ihres geringen Gewichts und der vergleichsweise grossen Klauen kaum Trittschäden.
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Mehr Mutter- als Milchkühe
Unverständlich findet es Andreas Schneider, dass die Hinterwälder nicht von der Erhaltungsprämie profitieren sollen, die der Bund ab 2022 für die Haltung seltener einheimischer Nutztierrassen ausbezahlen wird. Die Rasse soll trotz Auflistung bei ProSpecie Rara ausgeschlossen werden, da sie ursprünglich aus dem Schwarzwald stamme. Mit dem ausgestorbenen Frutiger Vieh seien sie jedoch nahezu identisch, und eine Rasse, die besser an die geografischen und ökologischen Verhältnisse unseres Landes angepasst sei, fände man kaum, ist Schneider überzeugt.
Bei all diesen Pluspunkten ist es kaum verwunderlich, sind die Hinterwälder momentan gefragt. «Wir verkaufen regelmässig Tiere und vermitteln sie in alle Ecken der Schweiz, letzthin ist eines unserer Rinder sogar ins Wallis umgezogen», zeigt sich der Betriebsleiter zufrieden. Etwa zwei Drittel der Hinterwälderbesitzer halten die Rasse zur Fleischproduktion, also in Mutterkuhherden. Das sind meist relativ kleine Nebenerwerbsbetriebe. Vor einiger Zeit war in der Schweiz sogar ein Fleischlabel spezifisch für die Hinterwälder angedacht. Dieses Projekt kam allerdings nicht zum Fliegen, da zu wenig und zu unregelmässig Schlachttiere hätten geliefert werden können. Obwohl die Rinder als optimale Zweinutzungsrasse gelten, setzt sie lediglich ein Drittel der Schweizer Halter als Milchvieh ein. Natürlich sind die Hinterwälder nicht mit den Hochleistungsrassen zu vergleichen. «Lehrlinge, die im vorherigen Betrieb beispielsweise mit Holsteinern arbeiteten, lachen unsere Rotbunten mit den kleinen Eutern anfangs aus», gibt Schneider zu. Davon lässt sich der Hinterwälderfan allerdings nicht beeindrucken. Er möchte seine Kühe um keinen Preis eintauschen.
Mehr spannende Artikel rund um Tiere und die Natur?Dieser Artikel erschien in der gedruckten Ausgabe Nr 06/2022 vom 24. März 2022. Mit einem Schnupperabo erhalten Sie 6 gedruckte Ausgaben für nur 25 Franken in Ihren Briefkasten geliefert und können gleichzeitig digital auf das ganze E-Paper Archiv seit 2012 zugreifen. In unserer Abo-Übersicht finden Sie alle Abo-Möglichkeiten in der Übersicht.
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