Exkursion
Im Tessiner Auenland
An der Mündung des Flusses Ticino liegt eines der wichtigsten Feuchtgebiete der Schweiz: die Bolle di Magadino. Hier lässt sich eine Vielzahl von Tierarten beobachten – auf geführten Wanderungen oder in einem Weidling.
Kaum ein anderer kennt die Wasserstrassen der Bolle di Magadino so gut wie Marco Nussbaum. Als einer von wenigen hat der 61-Jährige aus San Nazzaro die Bewilligung, dieses Naturschutzgebiet im Delta des Ticino mit einem Boot zu befahren. Die Bolle, eine der letzten grossen, unverbauten Flussmündungen der Schweiz, bleiben zwar für Menschen gesperrt, einen kleinen Teil kann man aber auf einer geführten Weidlingsfahrt erkunden – oder auf Naturlehrpfaden erwandern.
Zu sehen gibt es auch vieles in dem Überbleibsel der natürlichen Auenlandschaften am Ufer des Lago Maggiore: natürlich Enten, Schwäne, Blässhühner und Haubentaucher, aber auch Wasserschlangen, Sumpfschildkröten, Molche, Frösche, Kormorane, mehrere Reiherarten, Nachtigallen, Pirole und mit etwas Glück den Eisvogel.
Gondoliere Nussbaum liebt die Fahrten mit dem Weidling und die Begegnungen, bei denen er sein Wissen über die Bolle und ihre Geschichte an die Gäste weitergeben kann. So weiss er auch auf die Frage eines deutschen Ehepaars, weshalb das Gebiet «Bolle» heisse, die Antwort: «Es ist ein Moorgebiet, in dem durch den Gärungsprozess am Seegrund immer wieder Methangase austreten und an der Wasseroberfläche Luftblasen bilden», erklärt er. Auf Italienisch hiessen diese Luftbläschen eben «bolle», sagt Nussbaum und gibt dem Weidling mit seinem Stehruder etwas Schub.
Vom Kieswerk zum Naturschutzgebiet
Während der beschaulichen, 45-minütigen Fahrt durch die Auenlandschaft zieht Nussbaum immer wieder alte Fotos und Schriftdokumente hervor und reicht sie den Gästen. Er erzählt, dass die Bolle di Magadino zu den neun international geschützten Schweizer Auenlandschaften zählen und aus zwei Auenwäldern und über einem Dutzend Moorbiotopen bestehen. Diese erstrecken sich über eine Fläche von 660 Hektaren und bilden das grösste Feuchtwassergebiet der Schweiz. Die Vegetation besteht hauptsächlich aus Schilf- und Röhrichtflächen, Streuwiesen, Gras- und Strauchlandschaften sowie aus Wäldern. Ein Lebensraum für zahlreiche Vogel-, Algen-, Moos-, Pilz-, Farn- und Flechtenarten und für viele Amphibien- und Reptilienarten.
Je nach Interessen seiner Gäste geht Nussbaum auch auf die Geschichte dieser Auenlandschaft ein. «Dass die wilden Bolle ganz der Natur gehören, war nicht immer so: Das Mündungsgebiet am südlichen Alpenrand diente vor der Renaturierung dem Kiesabbau», erzählt er. Vor zehn Jahren musste das Kies- und Betonwerk das Feld räumen, und das einmalige Feuchtgebiet wurde endgültig der Natur überlassen, wie es die kantonalen Naturschutzbestimmungen schon seit Anfang der 1970er-Jahre vorgesehen hatten. «Heute ist das Gebiet hier für viele Zugvögel ein wichtiger Rastplatz, bevor sie die anstrengende Etappe über die Alpen oder in den Süden antreten», erklärt Nussbaum und zeigt auf Reiher, die rund 200 Meter vom Boot entfernt im seichten Wasser Fische fangen.
Zum ersten Mal durchgeführt wurden die Rundfahrten per Weidling vor bald 30 Jahren, «um Feriengäste, Schulklassen oder Altersheimbewohner für dieses Naturschutzgebiet zu sensibilisieren», erklärt Daniela Pampuri, Leiterin des Tourismusbüros Gambarogno. Ein Ziel, das mehr als erreicht wurde: «Pro Saison benutzen rund 350 Personen die Gelegenheit, die Bolle auf dem Wasserweg zu erkunden, die Fahrten sind praktisch immer ausgebucht», sagt Pampuri. Obwohl die Bootsfahrten sehr beliebt sind, muss das Tourismusbüro für diese Exkursionen zu Wasser jedes Jahr beim kantonalen Landwirtschaftsamt eine neue Bewilligung einholen.
Erforscht werden können die Bolle aber nicht nur zu Wasser, sondern von April bis Ende Oktober auch auf einer geführten Wanderung. Exkursionsleiterin ist seit 15 Jahren die Tessinerin Sabina Salvioni. Sie führt pro Saison rund 50 Schulklassen und Touristengruppen durch diese unberührte Landschaft. «Die Bolle sind aber kein Zoo», sagt sie. «Hier muss man für die Beobachtung der Tiere viel Geduld aufbringen und auch Glück haben.» Gerade für Kinder sei dies nicht immer einfach, «denn Kinder sind durch die vielen fantastischen Tier- und tollen Dokumentarfilme im Fernsehen gewohnt, dass wilde Tiere ihnen so quasi frei Haus geliefert werden.»
Natur und Aviatik im Clinch
Schirmherr und oberster Landschaftspfleger der Bolle ist der 48-jährige Tessiner Biologe Nicola Patocchi von der Stiftung Bolle di Magadino. Er ist mit seinem vierköpfigen Team nicht nur für den Unterhalt und die Pflegemassnahmen des Gebiets verantwortlich, sondern vor allem auch für die Forschung in dessen verschiedenen Habitaten. «Wir untersuchen zum Beispiel, welche Tiere in den Röhricht-, Wald- und Sumpfgebieten welche Bedürfnisse haben oder was passiert, wenn importierte und standortfremde Tierarten – wie jüngst die berüchtigte Tigermücke – das natürliche Gleichgewicht hier bedrohen», sagt Patocchi. Für diese und andere Forschungsprojekte und Langzeitstudien steht der Stiftung jährlich rund eine halbe Million Franken zur Verfügung. Eine wichtige Investition, denn die Stiftung Bolle di Magadino betreibt als einzige Institution derartige Forschungsprojekte im Tessin.
Die grösste Gefahr droht den Vögeln der Bolle allerdings von anderen Vögeln – von motorbetriebenen. Schon heute steigen auf der 800 Meter langen Piste unmittelbar neben der Auenlandschaft täglich Dutzende von Kleinflugzeugen und Helikopter in die Luft und überfliegen das Naturschutzgebiet. Und nun steht gar eine Pistenverlängerung um 170 Meter zur Diskussion. Für die Tessiner Behörden und andere Befürworter eine Notwendigkeit, da die jetzige, vor 45 Jahren vom Militär erbaute Piste für gewisse Flugzeugtypen eher zu kurz sei.
Zudem würden heutige, restriktivere Sicherheitsnormen eine Pistenverlängerung erfordern. Für den Leiter der Bolle hätte dies aber fatale Folgen: «Eine Verlängerung der Piste zieht noch mehr und vor allem auch grössere Jets an», sagt Patocchi und weist gleichzeitig auf die gegenseitige Gefahr hin: «Flugzeuge sind für die Brutvögel ein Problem und umgekehrt sind die Vögel ein Problem für die Jets, wenn sie in die Motoren geraten.»
Eine zusätzliche Störung der Vögel wäre für Nicola Patocchi unverantwortlich, «denn die Bolle sind das einzige Feuchtgebiet auf der Südseite der Alpen, das den Vögeln erlaubt, ausgiebig zu fressen und aufzutanken, bevor sie die Alpen überqueren». Lärmgeplagte Vögel versteckten sich und würden kaum mehr Futter zu sich nehmen. «Sie brechen auf, ohne genährt zu sein, und haben zu wenige Reserven. Viele schaffen dann den Überflug über die Alpen nicht.»
Besuch in den Bolle |
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