Der mit Gänsen redete
Das Forscherleben von Konrad Lorenz als Spiegel des 20. Jahrhunderts
Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz wurde durch seine Untersuchungen mit Graugänsen weltbekannt. Wie er aufwuchs, seine Lebensaufgabe fand und in welche Zwiespälte er geriet, beschreibt Ilona Jerger in ihrem biografischen Roman «Lorenz».
Titel wie «Hier bin ich – wo bist du?» oder «Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen» prägten Generationen von Tierinteressierten. Die Bücher waren vom Erfolgsautor Konrad Lorenz verfasst. Seine Titel erzielten mehrere hohe Auflagen. Er verstand es, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse einem breiten Publikum in gängiger Sprache spannend aufbereitet weiterzugeben. So fand auch manch amüsante Tiergeschichte aus seiner Feder ihren Weg in Schullesebücher. Wie beispielsweise diejenige mit dem zahmen, freifliegenden Grossen Gelbhaubenkakadu.
Überzuckerte Damen
Der Australier flog im Sommer durch das offene Fenster in den Familiensitz von Konrad Lorenz nördlich von Wien an der Donau. Dort sass seine Mutter mit Bekannten beim Kaffeekränzchen. Der Kakadu flatterte über die Torte. Anschliessend waren die Damen alle weiss, durch den Puderzucker, der vom Luftzug auf ihre Gesichter und Kleider geweht wurde.
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Konrad Lorenz besser kennenlernen
Wie Konrad Lorenz aufwuchs, wie er sich durch die schwierigen Jahre des Nationalsozialismus schlängelte, seinen Werdegang als Tierverhaltensforscher einschlug, in jahrelange Kriegsgefangenschaft geriet, wie er das aushielt und sogar vielen anderen Mut machte zum Durchhalten und als Tierpsychologe Weltruhm erlangte beschreibt die Autorin Ilona Jerger in ihrem Buch «Lorenz». Ihr Werk ermöglicht, dem grossen Namen näherzukommen, Konrad Lorenz in all seinen Facetten, mit seinen dunklen und liebenswerten Seiten kennenzulernen. Der Roman wurde nahe an Konrad Lorenz Leben verfasst.
Zwischen Tieren, Familie und Ideologien
Die Autorin bedient sich einer fiktiven Erzählerin, einer jungen Biologin, die mit den Büchern von Konrad Lorenz aufgewachsen ist und seinem Leben nachspürt. Je mehr sie erfährt, desto grösser wird ihre Faszination und desto zahlreicher werden die Fragen. Sie entdeckt ein Leben, in dem es um die Liebe zu den Tieren geht, von der Graugans Martina bis zu Bibern. Sie stellt sich der Frage, wie der Krieg in die Welt kam und was ihn begründet. Und die Geschichte handelt von Familie, Karriere und vom Überleben, sowohl der Arten als auch der Menschheit. «Lorenz» ist die Geschichte eines Mannes zwischen Tieren, Familie und Ideologien.
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In den Donau-Auen
Konrad Lorenz wird in eine wohlhabende Familie hineingeboren. Sein Vater ist ein berühmter Arzt, ein Orthopädie-Professor, der eine repräsentative Villa in Altenberg nördlich von Wien, direkt an den Donau-Auen, bauen liess. Hier wuchs Konrad Lorenz auf, verwandelte das herrschaftliche Gebäude in einen Zoo, indem er zahlreiche Tiere herbeischaffte, und hier verbrachte er seinen Lebensabend.
Konzentration auf Wichtiges
Ilona Jerger unterliegt nicht der Versuchung, das Leben des Tierverhaltensforschers von der Kindheit an detailreich zu beschreiben. Sie folgt einem roten Faden und scheut sich nicht, nach der Geburt gleich auf den 30-jährigen Konrad Lorenz zuzusteuern. «Erst jetzt lohne es sich, genauer hinzuschauen», schreibt sie.
Vom Arzt zum Zoologen
Konrad Lorenz studiert auf Drängen seines Vaters Medizin und lernt dadurch seine Frau Gretl kennen, ebenfalls eine Medizinstudentin. Mit Anfang 30 nimmt Konrad Lorenz’ Leben Fahrt auf, denn er traut sich, das vom Vater auferzwungene Medizinerleben hinter sich zu lassen. Der Vater eines Sohns und einer Tochter promoviert nun auch in Zoologie - mit einer Arbeit über den Vogelflug. Seine Frau sorgt für den Lebensunterhalt.
Artbarriere durchbrechen
In der idyllischen Welt in Altenberg zieht Konrad Lorenz, der schon als Kind über Selma Lagerlöfs Geschichte von Nils Holgerson begeistert war, eine Graugans auf, die völlig auf ihn fixiert ist. Lorenz versucht als Gans unter Gänsen zu leben und möchte so die Artbarriere durchbrechen. Oft liegt er inmitten einer Schar in den Auen, lernt ihre Sprache, kriecht durchs Gras oder schwimmt mit den Wassertieren in einem Altarm der Donau. Er notiert in sein Notizheft: «Ich bin ein sehr fauler Mensch, so faul, dass ich ein viel besserer Beobachter als Experimentator bin. Das Herrliche an einem solchen rein beobachtenden Leben und Arbeiten mit wild lebenden Tieren ist, dass die Tiere selbst so wundervoll faul sind. Die blödsinnige Arbeitshast des modernen Zivilisationsmenschen, dem sogar die Zeit fehlt, eine wirkliche Kultur zu haben, ist dem Tiere völlig fremd.»
Jahrelang in Kriegsgefangenschaft
Mit dem Zweiten Weltkrieg ziehen dunkle Wolken am europäischen Himmel auf. Konrad Lorenz’ Vater, wie er selbst, halten die Idee des Nationalsozialismus für richtig und begründen sie teilweise mit der Evolutionsbiologie im Tierreich. Weder an der Universität noch im Tiergarten Schönbrunn erhält Konrad Lorenz eine Anstellung. Er nimmt darum eine Professur für Psychologie am Kant-Lehrstuhl der Universität Königsberg in Deutschland an. Als der Krieg ausbricht, wird er in die deutsche Armee eingezogen, gerät schliesslich in russische Kriegsgefangenschaft. Er wird Lagerarzt in 13 verschiedenen Lagern in Armenien. Seine Frau weiss nicht, wo er ist. Erst nach vier Jahren kehrt er mit einem zahmen Star zurück.
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Kritik an moderner Architektur
Einen Neuanfang gibt es für Konrad Lorenz im deutschen Seewiesen, wo er an den Ufern des Esssees ein Forschungsinstitut gründet. Mit Verwunderung beobachtet er die Neubauten, die nach dem Krieg überall erstellt werden. Im Buch von Ilona Jerger steht: «Er hasst Beton und aus tiefstem Herzen Le Corbusier und alle modernen Architekten, diese Meister der Wohnbehälter, die dem Menschen seine ererbte Anpassung an ein Leben in einer grünen, natürlichen, durch Vielfalt geprägten Umgebung absprechen.»
Persönlichkeit in aufwühlender Zeitepoche
Während der Forschungszeit von Konrad Lorenz wurde Tierpsychologie zur Ethologie umbenannt. Der Tierverhaltensforscher Lorenz erhielt den Nobelpreis, geriet aber mit zunehmendem Alter auch in Kritik von jüngeren Berufskollegen. Ilona Jergers Buch beleuchtet eine Persönlichkeit einer aufwühlenden Zeitepoche. Sie macht es mit Umsicht, Interesse und Respekt. Dank ihres Buches bleibt Konrad Lorenz im Gespräch.
Schmökerecke
Ulona Jerger: «Lorenz»
336 Seiten, Piper Verlag
Ein Forscherleben als Spiegel des 20. Jahrhunderts. Die Geschichte eines Mannes zwischen Tieren, Familie und Ideologien: Konrad Lorenz hat sich grosse Verdienste in der Verhaltensforschung erworben und grosse Widersprüche wegen seiner biologistischen Auffassungen ausgelöst.
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