Herr Hakami, was macht Jäger und Sammler wie die Maniq so interessant?

Während den zwei Millionen Jahren Menschheitsgeschichte waren wir während 95 Prozent der Zeit Jäger und Sammler. Die Gesellschaften, wie wir sie aus den Geschichtsbüchern kennen, sind ein sehr junges Phänomen. Heutige Jäger und Sammler zeigen uns also ein grosses Stück unserer eigenen Geschichte. Bei unserer Reise nach Südostasien wollten mein Kollege und ich ergründen, wie die Gesellschaft der Maniq politisch, sozial und ökonomisch funktioniert.

Wie haben Sie Kontakt zu den Maniq aufgenommen?

Die Leute waren tatsächlich schwer zu finden, denn sie leben ja permanent im Regenwald und ziehen dort umher. Wir wussten jedoch, dass sie mit einigen Bauern in der Umgebung Tauschgeschäfte machten. Bei denen haben wir dann eine Weile gewohnt und darauf gewartet, dass die Maniq kamen, um zu handeln. Aus irgendeinem Grund fanden uns die Maniq dann wohl sympathisch und nahmen uns mit in den Wald. Dabei konnten wir uns auf die Erfahrungen anderer Forscher stützen, die Jahrzehnte vor uns bei anderen Jägern und Sammlern waren. Diese Gesellschaften funktionieren alle ähnlich, und so sind Informationen aus der Literatur äusserst wertvoll.

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Wie konnten Sie sich mit den Maniq verständigen?

Zunächst einmal mit Händen und Füssen. Vieles läuft also nonverbal ab. Dann fängt man irgendwann an, verschiedene Gegenstände zu zeigen, und hofft, dass irgendjemand etwas sagt. Indem man der Sprache die ganze Zeit ausgesetzt ist, schnappt man auch manchmal wiederholende Elemente auf. Es ist ein wenig, wie einen Code zu knacken. Wir hatten ja auch niemanden dabei, der übersetzten konnte. Und schlussendlich schreibt man die Vokabeln auf und lernt sie, ganz klassisch, wie in der Schule. Die Grammatik ist besonders schwierig, denn sie hat mit jener der westeuropäischen Sprache nichts gemeinsam. Man macht dauernd Fehler und wird dafür ausgelacht.

Wie war das dann so als Österreicher unter Jägern und Sammlern?

Für die Maniq waren wir pures Entertainment. Sie fanden uns lustig, denn wir machten in ihren Augen natürlich andauernd etwas falsch. In ihrer Gesellschaft gibt es so was wie Individualismus und Privatsphäre nicht, das heisst, man wird dauernd beobachtet und ausgelacht. Das ist auf Dauer wirklich hart, denn niemand wird gerne ausgelacht. Und wir Westeuropäer sind auch sehr darauf getrimmt, uns zurückziehen zu können. Aber das ging dort schlicht nicht.

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War dieses Fehlen von Individualismus auch das, was den grössten kulturellen Unterschied ausmachte?

Ja, Maniq sind extreme Kollektivisten. Nur die Gruppe zählt. Das heisst, es gibt keine Begriffe und Konzepte wie Selbstbewusstsein oder Selbstverwirklichung oder irgendwas, das mit dem eigenen Ich zu tun hat. In der Sprache kennen sie auch keine besitzanzeigenden Fürwörter, was das verdeutlicht. Alles gehört allen. Das zeigt sich auch beim Tauschen. Ich wusste, dass die Maniq starke Raucher sind, und habe zum Handeln einen ganzen Rucksack voller Zigaretten mitgenommen. Im Lager der Maniq angekommen, habe ich dann den Fehler gemacht, alle Zigaretten auszupacken. Daraufhin kamen immer wieder Menschen, sahen mich noch nicht einmal an und haben einfach was davon genommen. Meine westliche Vorstellung, dass ich jemandem etwas gebe und entsprechend etwas dafür bekomme, wurde also komplett über den Haufen geworfen. Dafür konnte ich mir im Gegensatz auch jederzeit etwas nehmen, das ich brauchte. Was da ist, gehört allen. Der Kollektivismus geht so weit, dass Kranke und Alte nicht erwarten, dass sich jemand um sie kümmert. Sie werden zwar gepflegt, aber die Erwartungshaltung ist nicht da. Durch das Fehlen des Individualismus hat auch niemand dort Angst vor dem Tod.

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Gab es auch verbindende Elemente?

Wenige. Vielleicht, dass auch die Maniq gerne über andere tratschen. Über Menschen reden, die nicht da sind, scheint ein allgegenwärtiges Element in allen Kulturen zu sein. Aber selbst Dinge, von denen man sagt, dass sie universell seien, konnten wir nicht bestätigen. So wird oft gesagt, dass der Mensch von Natur aus neugierig ist. Die Maniq waren aber überhaupt nicht an uns interessiert. Wir haben ihnen Fotos von Wien gezeigt, die haben sie nur kurz angeschaut und sich dann wieder anderem gewidmet. Als wir dann später nochmals dort waren, haben wir Fotos von anderen Jägern und Sammlern mitgebracht. Darüber haben sie uns plötzlich Löcher in den Bauch gefragt. Menschen sind also primär an dem interessiert, was sie schon kennen. Dieser sogenannte Ethnozentrismus kann man auch bei uns beobachten. Wir beurteilen alles aus der eigenen Gesellschaft heraus. Unsere Filme und auch Dokumentationen, selbst über andere Völker, sind aus der westlichen Sichtweise gedreht und erzählt. Entsprechend kann man den Maniq auch nicht erklären, was Sport ist. Bei ihnen gibt es kein Gewinnen oder Verlieren, keinen Wettkampf. Warum sollte jemand besser sein wollen als die anderen?

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Gab es bei so vielen Unterschieden Momente, an denen Sie an Ihre Grenzen kamen?

Ach, ständig. Die Maniq kennen jetzt auch österreichische Schimpfwörter, denn ich habe andauernd geflucht. Man ist ja auch knapp 75 Prozent der Zeit mit dem eigenen Überleben beschäftigt und nur 25 Prozent mit Forschung. Wir waren im Regenwald, hatten keine Privatsphäre und von nichts eine Ahnung. Man fängt bei null an, das ist wirklich frustrierend. Aber wir hatten auch die einmalige Gelegenheit, Erfahrungen zu machen, die niemand sonst machen kann. Das ist auch Teil der Psychohygiene, sich das bewusst zu machen. Plus, wir konnten dort ja nicht einfach so weg, also haben wir uns in solchen Grenzsituationen zusammengerissen und weitergemacht.

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Haben Sie von der Zeit bei den Maniq etwas für sich mit nach Hause genommen?

Ich bin definitiv ruhiger geworden. Wenn man den Regenwald überlebt hat, dann bringen Kleinigkeiten, über die man sich früher aufgeregt hätte, einen weniger aus dem Konzept. Aber wenn die Frage darauf abzielt, was wir von Jägern und Sammlern lernen können, dann: nichts. Denn was in ihrer Gesellschaft funktioniert, funktioniert bei uns nicht, und umgekehrt. Eine Erkenntnis, die ich gewonnen habe, ist, dass wir eben emotional sozialisiert sind und nicht rational. Wir lernen, wie wir in unserer Gesellschaft zurechtkommen, und genauso geht es Kindern bei den Maniq. Nicht alles macht überall und für alle gleich Sinn.

Zur PersonKhaled Hakami studierte Geschichte an der Universität Wien und beschäftigt sich mit Makrosoziologie, also damit, wie Gesellschaften funktionieren. Für seine Forschung verbrachte er viele Monate bei der Jäger-Sammler-Gesellschaft der Maniq im Süden Thailands. Als freier Wissenschaftler unterrichtet er an der Universität Wien.

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