Wildtiere
Auf den Spuren von Wolf und Luchs im Jura
Wer in exotische Länder reist, macht für gewöhnlich mindestens einen Ausflug in die fremde Natur. Doch wie gut kennen wir die Tierwelt vor unserer eigenen Haustüre? Höchste Zeit für eine Expedition in die Schweizer Wildnis.
In gespannter Erwartung tapst ein rundes Dutzend Leute durch die Abenddämmerung. Auch die Kinder lauschen konzentriert und suchen eifrig die Umgebung ab, um vielleicht einen entfernten Schatten zu entdecken. Wir befinden uns im Gebiet des Col du Marchairuz im Kanton Waadt, wo es nicht nur Hirsche und Rehe zu beobachten gibt, sondern auch so manche Wildschweine. Mit viel Glück können sogar heimische Grossraubtiere wie Luchse oder Wölfe gesichtet werden. 2019 hatte sich hier das erste jurassische Wolfsrudel seit rund 150 Jahren niedergelassen. Im vergangenen Jahr wurde zuletzt die Präsenz von vier adulten Tieren nachgewiesen.
Als es langsam eindunkelt, legt Tourguide David Gerke ab und zu einen Stopp ein, um die Umgebung mit seiner Wärmebildkamera abzusuchen. Doch die gewünschte Begegnung bleibt an diesem Abend aus. Morgen in aller Früh will die Gruppe ihr Glück noch einmal versuchen. Dennoch bleibt die Chance gering, etwas anderes als Hirsche, Rehe oder vielleicht einen Fuchs zu sehen.
Auf manchen dieser «Wolf und Luchs im wilden Jura»-Touren wurden schon Wildschweinrotten gesichtet, erzählt David Gerke und zeigt Bilder auf seinem Handy. Einmal gelang es sogar, mit einer Gruppe von Leuten aus der ganzen Deutschschweiz Wölfe zu beobachten. Ein wahrer Glücksfall. «Es ist einfacher, einen Luchs zu sehen als Wölfe, da diese sehr sensibel sind», so die Einschätzung des Biologen. «Ich würde Luchse nicht als scheu bezeichnen, sondern als heimlich. Sie sind unglaublich gut getarnt, aber auch selbstbewusst.» Er habe schon erlebt, wie ein Luchs ihm seelenruhig zugesehen habe, als er dessen Beute suchte. «Ich habe ihn erst nach Minuten entdeckt», erzählt Gerke. Erst dann sei das Tier verschwunden. Wölfen hingegen könne man sich für gewöhnlich höchstens auf wenige Hundert Meter nähern, sonst fühlen sie sich bedroht und treten den Rückzug an. Die Suche nach der Luchsbeute hatte David Gerke gestartet, da er eine Menge Rehhaare auf einem Wanderweg entdeckt hatte. Ein klarer Hinweis auf einen Angriff. «Wenn man ein totes Wild findet, ist die Chance gut, dass der Luchs sich noch in der Nähe befindet», erklärt Gerke. «Findet man Überreste einer Wolfsbeute, sind meistens nur noch Knochen übrig und das Tier ist über alle Berge.» Dafür sei die Beute von Luchsen schwieriger zu finden, da sie diese üblicherweise sehr gut verstecken.
Auf Fährtensuche
Auch wenn sich mal kein Wildtier zeigt, gibt es trotzdem stets viel zu entdecken in unseren heimischen Wäldern. Vor allem in einem Gebiet wie dem Hochplateau um den Col du Marchairuz, wo sich Wälder mit offenen Weideflächen abwechseln. Dieses bietet einen idealen Lebensraum für Hirsche und Rehe, weshalb der Wolf ihnen hierher gefolgt ist. Die Grossraubtiere nutzen wie ihre engen Verwandten, die Füchse, vorzugsweise geräumige Forstwege, um sich darauf kilometerweit fortzubewegen. An Abzweigungen sind in Wolfsrevieren oftmals Trittspuren und Markierungen in Form von Kot zu finden. Besonders einfach ist das, wenn es ein paar Zentimeter geschneit hat. Doch aufgepasst: Nur, weil man den Abdruck einer grossen Pfote gefunden hat, ist hier noch lange kein Wolf durchspaziert. Es gibt Hunderassen, die ebenfalls bis zu zwölf Zentimeter lange Pfotenabdrücke hinterlassen. «Vor allem, wenn ich menschliche Fussabdrücke nebendran sehe, gehe ich immer von einem Hund aus», so Guide Gerke. «Wenn ich unsicher bin, lohnt es sich manchmal, eine Fotofalle aufzustellen.» Besonders schwer zu finden sind sogenannte Rendez-vous-Plätze, wo sich das ganze Rudel nach den meist individuellen Jagdzügen immer wieder zusammenfindet. Hier versteckt verbringen die Welpen ihre ersten Monate. Hinweise können Welpenkot oder auch kleine Kratzspuren an Ästen von spielenden Jungwölfen bieten.
Verräterische Hinterlassenschaften
Auch andere Wildtiere hinterlassen ihre unverkennbaren Fährten im Wald. Die meisten Losungen können eindeutig einem Tier zugewiesen werden. Oftmals sieht man dem Kot auch an, ob er einigermassen frisch platziert wurde oder schon etwas älter und eingetrocknet oder zertrampelt ist.
Spuren im hohen Gras können zudem auf die Präsenz von grossen Tieren schliessen. Zum Beispiel fallen an den Schlafplätzen von grossen Hirschen oftmals Liegespuren auf. Einfacher zu erkennen sind jedoch ihre Fegespuren an Bäumen, um das juckende Geweih zu kratzen und zu markieren. Besonders im Winter, wenn die Nahrung knapp ist, sieht man manchmal auch verbissene, abgenagte oder abgeschälte Bäume.
Nicht um jeden Preis
Die Gruppe ist jedoch nicht im Winter, sondern mitten in der Brunftzeit der Hirsche unterwegs. So brauchen wir bloss dem durchdringenden Röhren der Hirsche zu folgen, um einige weitere Spuren der Geweihträger zu entdecken. Als wir eines der majestätischen Tiere in unmittelbarer Nähe aufstöhnen hören, brechen wir die Fährtensuche ab. «Wenn wir noch etwa einhundert Meter weiter in den Wald gegangen wären, hätten wir dem Tier auf einmal gegenübergestanden», so Gerke. «So wäre es bloss verschreckt davongerannt, was niemandem etwas genützt hätte.» Ganz im Gegenteil: Wir wären ein eindeutiger Störfaktor gewesen. So kehren wir zurück zum Camp und schliesslich nach Hause – im Rucksack zwar nur wenige Tierbeobachtungen und doch haben wir uns den grossen heimischen Wildtieren selten so nah gefühlt.
David Gerkeerlangte während der Volksabstimmung zum revidierten Jagdgesetz 2020 nationale Berühmtheit, indem er sich vehement dagegen aussprach. Noch heute sieht sich Gerke, der auch Jäger und Schafhalter ist, mit seinem Verein Gruppe Wolf Schweiz als «Stimme der Schweizer Grossraubtiere» und erforscht die Tiere hobbymässig in ihrer freien Wildbahn. Als solcher sei er in den vergangenen Jahren immer häufiger für Exkursionen angefragt worden, bis er beschloss, solche Touren mit Hilfe von weiteren Guides öffentlich anzubieten. Nicht allen gefällt das. Manche seiner Touren führen ins Wallis, wo er auf massiven Gegenwind stösst.
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