Mini-Pilgertour am Vierwaldstättersee
Der Jakobsweg Schweiz ist auch für Nicht-Pilger empfehlenswert
Wo der Jakobsweg anfängt, ist jedem Pilger selber überlassen. Enden tut er traditionell am Ende der Welt. Doch so weit muss man für einen ersten Eindruck nicht gehen.
Es ist einer der ursprünglichsten Zipfel der Schweiz, dieses Seelisberg im Kanton Uri. Im Knie, das den Vierwaldstättersee vom Urnersee trennt, blickt das Dorf auf die unsichtbare Grenze im Wasser, wo die drei Urkantone zusammentreffen. Ein kurzer Spazierpfad führt von hier aufs Rütli, wo die Eidgenossenschaft zur Welt gekommen sein soll. Doch heute soll es nicht um Schweizer Gründungsmythen gehen, sondern um ein noch viel älteres, biblisches Brauchtum. Denn durch Seelisberg führt der Jakobsweg. El Camino.
Wobei «der» Jakobsweg irreführend ist, durchzieht doch ein ganzes Netz von Jakobswegen die Schweiz und ganz Europa. Hauptwege, Zubringerwege, hundertfach verästeln sich die Pfade, je weiter man gegen Osten schaut. Doch eines haben sie gemein: Sie alle münden am westlichen Zipfel Spaniens, in Santiago de Compostela, oder besser noch, am Kap Finisterre, dem Ende der Welt, wie man sie vor tausend Jahren kannte.
«Muscheln fand man damals nicht in jedem Supermarkt, sondern nur am Meer.»
Rudolf Käsermann ist Präsident des Vereins Jakobsweg.ch. Der gebürtige Berner lebt seit einem Jahr hier und begleitet den Wanderer an diesem sonnig-warmen Mittwochvormittag auf einem kleinen Teilstück der Pilgerroute. Es handelt sich dabei um eine der Hauptrouten durch die Schweiz. Sie führt vom Bodensee den Klöstern entlang südwestwärts. Fischingen, Rapperswil, Einsiedeln, Ingenbohl. «Und von Brunnen fahren die Pilger mit dem Schiff über den See bis nach Treib», sagt Käsermann.
Eine Muschel mit Symbolcharakter
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Der hauptberufliche Bau- und Projektleiter hat den leichten Tagesrucksack montiert. Die typische Jakobsmuschel, die den Pilger erkennbar macht, hat er zu Hause gelassen. Ursprünglich, so erzählt der Vereinspräsident, diente sie als Beweisstück zum Sündenerlass. «Wer nicht genug Geld hatte, um der Kirche den Ablass zu bezahlen, konnte auch nach Santiago pilgern und eine Muschel zurückbringen.» Die fand man damals noch nicht in jedem Supermarkt, sondern nur am Meer.
Heute hat die Muschel Symbolcharakter und wird nicht auf dem Rückweg, sondern auf der Pilgerroute westwärts getragen. Um den Hals, am Rucksack, als T-Shirt-Motiv oder sogar als Tätowierung. Und nicht zuletzt sind auch die Routen mit Muschelmotiven ausgeschildert. «Via Jacobi» heissen sie in der Schweiz und tragen die Nummer 4 der offiziellen Wanderland-Routen von Schweiz Mobil. Was auf dem Wegweiser wie Sonnenstrahlen aussieht, ist in Wahrheit eine stilisierte Jakobsmuschel. Und dort, wo die Strahlen zusammenkommen, liegt Santiago, erzählt der Vereinspräsident.
Der Verein
Der Verein Jakobsweg.ch hat seinen Ursprung in einer regionalen Gruppe, die ab 1995 die damals darbende Wirtschaft im Berner Oberland ankurbeln und dazu die Pilger- und Saumwege reaktivieren wollte. 2008 wurde der heutige landesweite Verein gegründet. Neben der Ausbildung von Pilgerbegleitern kümmert er sich um die Erschliessung der Jakobswegrouten und fördert gemeinnützige Projekte. Das aktuellste ist ein rollstuhlgängiger Pilgerweg zwischen Konstanz und Einsiedeln. Auf seiner Website bietet der Verein ein europaweites Wegenetz und alles Wissenswerte zum Pilgern an. In gedruckter Form hat er 2018 im Werd Verlag den Führer «Pilgern auf dem Jakobsweg Schweiz und seinen Anschlusswegen» veröffentlicht.
jakobsweg.ch
Er selbst hat die grosse Pilgerroute nach seinem 50. Geburtstag unter die Füsse genommen. 2270 Kilometer in dreieinhalb Monaten, erzählt er, nicht ohne Stolz, als er seinen hölzernen Pilgerstab nach vorne schwingt und abmarschiert. Rasch lässt er das Dorf hinter sich. Der Blick ist nun frei auf den See. Hinter sich sieht Käsermann den Grossen und den Kleinen Mythen aufragen, vor ihm ist in der Ferne schon das Ziel der heutigen Etappe zu sehen: Beckenried NW.
An Zufälle glaubt er nicht mehr
Der Weg fängt sanft an – und geteert. Auf halber Höhe zwischen See und Brandegg versteckt sich die Sonne noch hinter der steil aufragenden Felswand. Nach ein paar bummeligen Kilometern wird das Strässchen zum Waldpfad, der erst nur leicht ansteigt und die Wandernden und Pilgernden immer wieder einlädt, den Seeblick zu geniessen. Dann wird er aber plötzlich steil und beginnt sich zu winden, als müsse er sich beeilen, rechtzeitig auf die gewünschte Höhe zu kommen.
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Sonnwil heisst der Weiler dort oben, und er trägt seinen Namen nicht von ungefähr, denn jetzt blitzt die Sonne zwischen den Baumstämmen hervor. Es ist ein uriger Mischwald mit viel Totholz am Boden. Die Luft riecht nach Moos und Harz, sie tönt nach Specht und Amsel. Und am Waldrand oben brummt es geschäftig, denn im Bienenhaus mit seinen kunterbunten Einflugschneisen herrscht schon Hochbetrieb.
Auf dem Weg zwischen dem Weiler Sagendorf und seinem Wohnort Emmetten erzählt Rudolf Käsermann, wie er erst nach seinem Umzug gemerkt hat, wie symbolträchtig das kleine Nidwaldner Dorf für einen Pilger wie ihn ist. Nicht nur liegt es mitten auf der Hauptroute des Schweizer Jakobsweg, es trägt sogar drei Jakobsmuscheln im Wappen. «Das wurde mir erst bewusst, als ich zum ersten Mal Post von der Gemeinde bekam.» Auch die Kirche im Dorf ist St. Jakob gewidmet und trägt an ihrer Fassade eine Tafel, die verkündet, wie weit es noch ist bis Santiago. Es hat den Pilger also ganz zufälligerweise an einen passenden Ort verschlagen.
«An Zufälle glaube ich seitmeiner Pilgerreise nicht mehr.»
Wobei, berichtigt er: «An Zufälle glaube ich seit meiner Pilgerreise nicht mehr.» Zu viele Begegnungen mit Gleichgesinnten habe er unterwegs gemacht, Freundschaften, die ihm bis heute geblieben sind.Gerade in Südfrankreich und Spanien, wenn die verästelten Adern des Jakobsweges allmählich zu einer grossen Aorta zusammenfinden, verliere man sich immer wieder aus den Augen und finde sich ein paar Pilgertage später wieder. Eben nicht zufällig, sondern aus Vorsehung vielleicht. In Käsermann, das merkt man ihm an, hat der Jakobsweg einiges bewirkt, eine neue Geisteshaltung. Religiös sei das nicht wirklich, aber definitiv spirituell, sagt er.
Die Route
Seelisberg–Emmetten–Beckenried.12 Kilometer, ca. 350 Höhenmeter, machbar in ca. 3 Stunden. Entlang der Route 4, Via Jacobi. Start: Seelisberg Bergstation (stündliches Postauto aus Stans) oder Schiffstation Treib (Überfahrt aus Brunnen SZ). Ziel: Beckenried See, per Postauto zurück nach Stans oder per Schiff Richtung Luzern. Abstecher: Mit der Gondelbahn von Emmetten auf die Stockhütte zum Panorama-Zvieri (mit GA gratis).
Steil runter nach Beckenried
Emmetten ist Endstation für Rudolf Käsermann. Die Arbeit ruft. Er wünscht dem Wanderer, wie es sich auf dem Jakobsweg gehört, ein «¡Buen Camino!» und spornt ihn an, irgendwann selbst vom Wanderer zum Pilger zu werden. Die letzten paar Kilometer nach Beckenried geht es ohne Begleitung. Und es geht steil bergab, die vorhin hastig gewonnenen Höhenmeter wollen wieder abgeschüttelt werden. Viele sind es nicht, aber sie kommen auf einen Schlag.
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Als die Treppenstufen wieder zu einem Pfad werden, versperrt die Autobahn den Blick auf den See. Ganz böse Zungen behaupten, sie sei das Schönste an Beckenried. Es sind dieselben, die einen auslachen, wenn man «Mythen» mit «ü» ausspricht. Sollen sie doch, dem Wanderer gefällt der Einmarsch in RichtungEtappenziel. Der Jakobsweg führt jetzt dem Ufer entlang. Voraus ragt der Bürgenstock in die Höhe und die Seilbahn in Richtung Klewenalp scheint der imposanten Pfarrkirche St. Heinrich zu entspringen.
Im Zickzackkurs tuckert das Vierwaldstättersee-Schiff in Richtung Beckenried. Die Überfahrt von Brunnen nach Seelisberg, die eigentlich zur Pilgerstrecke gehört, hat der Wanderer übersprungen. Weil seine Schnupperpilgertour hier aber schon ihr Ende findet, holt er das Erlebnis auf dem See nun nach. Er steigt in das Touristenschiff und gönnt sich die Überfahrt nach Luzern. Ob er künftig irgendwann wochen- oder gar monatelang auf dem Jakobsweg pilgern wird, weiss er noch nicht. Jetzt jedenfalls ist die Zeit noch nicht gekommen.
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