Im Haus Gamgoas im Zoo Basel lassen sich durch Scheiben Löwen in Aussenanlagen beobachten, als tummelten sie sich in der afrikanischen Savanne. Nilkrokodile sonnen sich auf einer Flussbank, Königsglanzstare zwitschern aus Baumkronen und farbenfrohe Buntbarsche aus ostafrikanischen Seen schwimmen im klaren Wasser. Die grösste Rarität des Gebäudes kriecht aber gerade aus einer Felsspalte über steinigen Grund. Es ist eine Boulengers Flachschildkröte.

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Kapazitätsstratege

«Der Basler Zoo ist der einzige Zoo weltweit, der diese stark gefährdete Art hält», betont der Kurator Fabian Schmidt. Er erklärt, wie die Tiere in den Zoo kamen. Die Initiative sei von Victor Loehr ausgegangen, einem privaten niederländischen Züchter.

Die Schildkrötenart kommt in einem kleinen Verbreitungsgebiet Südafrikas in der Grossen Karoo vor, einer Halbwüste in den Hochebenen. Zwischen den Jahren 2000 und 2017 wurden lediglich noch 24 Individuen dieser Schildkrötenart beobachtet. 40 historische Fundorte wurde abgesucht. Nur an einem wurde noch eine Population vorgefunden. «Die übrigen Lebensräume sind durch den Menschen zerstört worden», sagt Fabian Schmidt, der den Lebensraum der kleinen Schildkröte bereiste.

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Überweidung durch Haustiere und steigende Temperaturen seien die Probleme. Heissere Temperaturen verwandeln die Halbwüste in eine Wüste und haben Auswirkungen auf eine Art, bei der die Geschlechtsbestimmung über die Bruttemperatur erfolgt. Das heisst: Bei niedrigen Temperaturen schlüpfen Männchen, bei höheren Weibchen. «Ein weiteres Problem ist, dass die Boulengers Flachschildkröte ein Kapazitätsstratege ist», sagt der Kurator. Er erläutert gleich, was damit gemeint ist. «Sie legt nur ein Ei.» Das Gegenteil sei ein Reproduktionsstratege, eine Art, die auf Menge setze und somit viel Nachwuchs produziere.

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Verschiedene Einzelterrarien

Natürliche Feinde der Flachschildkröten seien Paviane, die im Bestand zunähmen. Krähen würden ihnen ebenfalls nachstellen. Sie seien eingewandert wegen den Telefonmasten, die für sie hervorragende Aussichtspunkte böten. Ansonsten wachsen in der Karoo keine Bäume.

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2018 stufte die Internationale Union zur Bewahrung der Natur (IUCN) die Boulengers Flachschildkröte als stark gefährdet ein. In der Haltung spielte die Art bisher keine Rolle. Die südafrikanische Regierung erlaubte nun aber aufgrund der akuten Gefährdung der Art dem niederländischen Züchter Victor Loehr Wildentnahmen. Er engagiert sich innerhalb der Stiftung «Dwarf Tortoise Conservation».

2020 gelang die Welterstzucht der Boulengers Flachschildkröte. Heute besteht der weltweite Bestand in Menschenobhut aus 21 Tieren in vier Haltungen. Acht Junge aus den Jahren 2021 und 2022 leben im Basler Zolli. Nach über einem Jahr Aufzuchtszeit kann diese seltene Art nun durch eine Scheibe in einem speziellen Raum in Einzelterrarien beobachtet werden.

«Diese Schildkröte ist meist unverträglich, wenn sie erwachsen ist», betont Fabian Schmidt. Darum seien verschiedene Terrarien notwendig. Es dauert allerdings lange, bis die Schildkröten geschlechtsreif sind. Bis zu zwölf Jahre sind keine Seltenheit, und es gibt Anzeichen, dass es wegen den wärmeren Temperaturen sogar noch länger dauern wird. Die Behälter sind gut strukturiert mit Steinplatten, Wurzeln und Verstecken. Sie sehen aus wie kleine Ausschnitte der Karoo. Spezielle Lampen mit ultraviolettem Licht simulieren die Sonne im südafrikanischen Hochland.

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Zoos als Arche

Der Vorteil der Zucht unter Menschenobhut ist, dass Junge unter geschützten Bedingungen aufgezogen werden können. Zudem würden die Weibchen unter Menschenobhut schneller wieder Eier legen, sagt Fabian Schmidt. Weiter streicht er heraus: «Das Zuchtbuch der Boulengers Flachschildkröte wird nicht von Zoos geführt, sondern entstand auf private Initiative.» Es sei wichtig, dass Zoos und Private zusammenarbeiteten, um durch Zucht seltene Arten zu bewahren. Bei der Boulengers Flachschildkröte ist bereits der Start des Projekts hoffnungsvoll. Es zeigt aber auch: In Zoos leben und vermehren sich Gorillas, Elefanten und Löwen unter idealen Bedingungen, doch nebst diesen prominenten Tieren kümmern sich Zoologische Gärten um eine enorme Vielfalt an Arten. Dazu gehört jetzt auch die Boulengers Flachschildkröte.

 

Wie die Schildkröte zu ihrem Namen kamDie kleine, maximal 13 Zentimeter und 150 Gramm schwere Boulengers Flachschildkröte (Chersobius boulengeri) – Männchen sind kleiner – wurde 1906 zu Ehren von George Albert Boulenger benannt. Boulenger wurde 1858 im belgischen Brüssel geboren und verstarb 1937 im französischen Saint-Malo. Er studierte Naturwissenschaften und wurde ab 1880 mit der Katalogisierung der Amphibiensammlung des Natural History Museums London beauftragt. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der zoologischen Abteilung war er fortan bis 1920 tätig und verfasste 877 Schriften sowie 19 Monographien über Fische, Amphibien und Reptilien. Nach seiner Pensionierung beschäftigte er sich mit Rosen und schuf ein zweibändiges Werk über Rosen Europas. Sein Sohn wurde Direktor des Londoner Zoo-Aquariums.