Andy Murray ist 55 Jahre alt und wuchs in Yorkshire im Norden Englands auf. Heute lebt er im Süden Englands und arbeitet als Lektor für die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO). In seinem Leben hat er schon viele Dinge ausprobiert: Er war nicht nur Fotograf, sondern auch Koch, Autor, Musiker, Jonglierer, Strassenmusiker, Poet und Archäologe. Sein schlimmster Albtraum sei es, zu sterben, ohne alles gesehen und getan zu haben, was er immer wollte. «Ich habe mir immer vorgestellt, einmal ein interessantes Leben zu haben. Das hat also ganz gut funktioniert.»

Herr Murray, wie kommen Sie zu Ihren Aufnahmen? Wandern Sie einfach durch den Wald und starren auf den Boden?

Tatsächlich läuft die Suche meist genauso ab! Ein grosser Teil der Freude am Fotografieren von Bodenbewohnern besteht darin, irgendwo an einem überwältigenden Ort zu sein und diesen für eine lange Zeit zu erkunden. In einem Wald zu sein, sich langsam zu bewegen oder für Stunden auf dem Boden zu sitzen, bedeutet auch, dass die Natur wieder beginnt aufzuleben. Man sieht dann Vögel und Tiere, wie sie ihrer natürlichen Routine folgen. Und man nimmt Geräusche und Gerüche wahr, die man gerne übersieht, wenn man nur vorbeiläuft.

Sie gehen also besonders langsam und behutsam vor.

Nach Bodentieren Ausschau zu halten, hat viel mit Sensibilität zu tun. Ich folge strikt dem Ethos, keine Spuren zu hinterlassen und so wenig Schaden wie möglich an dem winzigen Ökosystem zu hinterlassen. Natürlich, bereits das Hindurchlaufen ist in einem gewissen Masse schädigend. Auch das Umdrehen von Hölzern kann Teile dieser Welt stören, die ich fotografieren will– etwa, indem Licht in ein dunkles Umfeld eintritt und so das existierende Mikroklima beeinflusst. Aber die kleinen Wesen sind robust und ich versuche sie nur kurz zu exponieren.

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In meiner Vorstellung sind Springschwänze klein und schnell. Wie schwer ist es, Makroaufnahmen dieser Wesen zu machen?

Meistens ist es schon sehr schwer. Viele tropische Spezies sind extrem schnell, besonders jene, die oberhalb des Bodens leben, in Blättern und sonstiger Vegetation. Diese Tiere bleiben gelegentlich stehen. Falls nicht, muss man ihnen einfach durch die Linse folgen und auf etwas Glück hoffen.

Apropos Springschwänze: Sie bezeichnen diese als Ihre Lieblingstiere. Weshalb nicht etwas, mit dem man knuddeln kann?

Es handelt sich um komplexe, farbenfrohe, unterschiedliche, ursprüngliche und mysteriöse Tiere. Sie sind fähig, beinahe überall zu leben, zu überleben und zu gedeihen. Wunderbar! Ich verstehe nicht, weshalb irgendjemand nicht von ihnen begeistert sein könnte.

Was hat Sie zur Mesofauna gebracht, also zu den Bodenbewohnern im Millimeterbereich?

Bereits als Kind war ich von Insekten und generell von der Natur fasziniert. Ich erbte damals zwei Mikroskope, weshalb ich einen grossen Teil meiner Kindheit damit verbrachte, alles durch ein Mikroskop zu betrachten. Als dann die Makrofotografie mit digitalen Kameras technisch möglich wurde, kaufte ich meine erste Linse und Kamera. Ich wurde besessen davon, immer und immer mehr Details zu sehen, je näher ich den Dingen kam. Irgendwann waren dann nur noch die Bodentiere übrig. Eine Welt zu fotografieren und zu entdecken, die bisher noch kaum erforscht wurde, ist ein enormer Antrieb. Ausserdem besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ich dabei bisher unbekannte Spezies entdecke. Bei meiner letzten Zählung stiess ich auf mindestens 30 neue Arten, beispielsweise eine neue Springschwanzart Grossbritanniens.

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Sie scheinen oft herumzureisen. Gibt es viele verschiedene Arten von Bodentierchen, abhängig vom jeweiligen Ökosystem?

Ich bin tatsächlich ein paar Mal rund um die Welt gereist, um die Bodenbewohner zu fotografieren und zu studieren. Das ist ein enormes Privileg und ich bin dankbar, diese Möglichkeit gehabt zu haben. Hauptsächlich habe ich mich auf den Regenwald konzentriert, sowohl auf den gemässigten als auch auf den tropischen. Einerseits, weil ich es geniesse, mitten im Nirgendwo umgeben von Bäumen zu sein, andererseits, weil diese Orte eine dermassen grosse Breite an Wirbellosen zum Studieren bieten. Aber sobald man sich in extremere Umgebungen begibt, zum Beispiel Berge, Gletscher, Strände oder Höhlen, nimmt die Variation sowie die Menge ab. Hier findet man zwar weniger, dafür unüblichere Spezies, die sich darauf spezialisiert haben, im Dunkeln, in der Hitze oder der Kälte zu überleben.

Wie steht es mit der Schweiz, wie viele Bodentiere finden sich hier?

Die meisten Bodentierchen sind in der Schweiz in Hülle und Fülle vorhanden, mit Hunderten von vielfarbigen und unterschiedlichen Arten von Springschwänzen und Milben.

Auf Ihrer Webseite schreiben Sie, Sie seien «gefroren, gekocht, gebissen und gestochen» worden. Das klingt ganz schön gefährlich. Muss man sich vor den winzigen Bodenbewohner in Acht nehmen?

Nein, Bodentiere sind überhaupt nicht gefährlich, sondern einfach in jeglicher Art und Weise wundervoll. Um genau zu sein, bedeutetet ihre Existenz, Interaktion und Komplexität in einem Boden sogar, dass dieser besonders gesund ist. Ausserdem tragen sie zu einem vitalen Ökosystem bei. Sie sind die Wurzel unserer Existenz. Ich meinte diese Worte eher in jenem Sinn, als dass ich während dem Fotografieren in so vielen unterschiedlichen Klimazonen oft von Moskitos, Mücken und Blutegeln attackiert wurde. Das ist einfach ein alltägliches Problem meiner Arbeit, das man tolerieren muss. Es kann aber durchaus gefährlich werden. In vielen Wäldern, in denen ich mich aufhalte, muss ich auf Spinnen, Skorpione, aber auch Wildschweine, Bären und Grosskatzen aufpassen.

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Obwohl die Tiere des Bodens so wertvoll sind, haben sie doch oft einen schlechten Ruf. Woher kommt dieses Missverständnis?

Die meiste schlechte Presse stammt von Schädlingsbekämpfungsfirmen, die ein Problem kreieren mussten, um ihre Produkte verkaufen und ihre Dienstleistungen anbieten zu können. Um ihr Ziel zu erreichen, verbreiten sie ohne schlechtes Gewissen Falschinformationen. Ausserdem gibt es einige Verschwörungstheorien darüber, dass Springschwänze für Menschen parasitär seien und unter anderem die sogenannte Morgellons-Krankheit verursachen würden. Dank des Internets können sich diese Gerüchte ungehindert ausbreiten. Ich habe sogar schon Todesdrohungen erhalten, weil ich mich gegen diese Unwahrheiten gewehrt habe. Da zitiere ich gerne Brandolinis Gesetz: «Das Widerlegen von Schwachsinn erfordert eine Grössenordnung mehr Energie als dessen Produktion.»

Die meisten Menschen ekeln sich vor Insekten – egal, wie klein oder gross. Was möchten Sie diesen sagen?

Viel Angst oder Ekel vor Insekten oder anderen Hexapoden kommt schlicht von einem Mangel an Wissen und Verständnis. Meist ist es eine antrainierte Reaktion, die wieder abtrainiert werden kann, indem man etwas über die Tiere lernt und erkennt, wie schön und komplex sie sind.

Wenn wir schon beim Thema Ekel sind: Sie sind nicht nur Fotograf, sondern auch Koch. Kann man die Boden-Mesofauna auch essen? Und: Wie schmecken Springschwänze?

José Palacios-Vargas, ein bekannter mexikanischer Collembologe – so nennt man diejenigen, die Springschwänze studieren –, hat einst so viele Springschwänze gesammelt, dass er, aus reinem Interesse, ein paar davon gegessen hat. Er berichtete, dass sie absolut widerlich schmecken. Das rührt wohl daher, dass die meisten einen Abwehrmechanismus besitzen, bei dem sie ein unappetitliches Sekret aussondern, um Fressfeinde abzuschrecken. Viele andere Bodentiere haben dieselbe Strategie, weshalb es unwahrscheinlich ist, dass sie viel besser schmecken.

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