Pünktlich um 7 Uhr morgens erreicht die erste Gondel die Mittelstation der Strecke Arosa–Weisshorn. Sie entlässt ein kleines Team aus Tierpflegenden in die herrliche Landschaft der Bündner Alpen – direkt vor die Pforten ihrer Arbeitsstelle. Die Arbeitgeber: Vier hungrige Braunbären, die bereits ungeduldig auf ihr Frühstück warten.

Im August 2018 wurde das Arosa Bärenland feierlich eröffnet. Ziel der Attraktion ist, in Zusammenarbeit mit der international tätigen Tierschutzorganisation Vier Pfoten, misshandelten Braunbären aus Ost- und Südwesteuropa ein artgerechtes Zuhause zu bieten und gleichzeitig eine Erlebniswelt für Besucherinnen zu schaffen. Der Eröffnung ging allerdings eine lange Planungsphase voraus, die Umsetzung drohte beinahe zu scheitern. «Als 2010 die Idee des Arosa Bärenlandes entstand, war es schwierig, die Einheimischen und die Bodenbesitzer davon zu überzeugen, dass das Projekt für den Tierschutz und den Tourismus in Arosa Vorteile bringt», erzählt Dr. Hans Schmid, wissenschaftlicher Leiter des Arosa Bärenlandes, von den anfänglichen Schwierigkeiten. Erst 2016 willigte die Aroser Bevölkerung mit 78 Prozent Ja-Stimmen zum Bärenland ein. Heute erkundigen sich die Einheimischen, wie Schmid verrät, regelmässig nach dem Wohlbefinden der Bären.

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Ein trauriges Schicksal

In der Berglandschaft, die dem natürlichen Lebensraum von Braunbären entspricht, fühlen sich die Tiere sichtlich wohl. Ihre Tage verbringen die aktuellen Bewohner Amelia, Meimo, Jamila und Sam mit der Nahrungssuche, dem Beobachten der Umgebung, ausführlichen Nickerchen und Interaktionen mit ihren Artgenossen. Im Winter ziehen sich die Tiere zu einer Winterruhe zurück, so wie es sich natürlicherweise für einen Bären gehört. Für die vier war das aber nicht immer eine Selbstverständlichkeit.

Dank der Partnerorganisation Vier Pfoten, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Bären in schlechter Haltung aufzuspüren, kamen im Februar 2019 Amelia und Meimo zusammen in Arosa an. Sie gehörten zu den letzten Restaurantbären Albaniens. In einem kleinen Metallkäfig von nur 60 Quadratmeter Fläche fristeten die beiden ihr Dasein. Als Kritik von Restaurantbesuchern laut wurde, entschieden sich die Besitzer, den Minizoo zu schliessen. Seit 2020 leben zudem Jamila und Sam im Arosa Bärenland. Ursprünglich kam das Geschwisterpaar aus dem Zoo Skopje in Nordmazedonien, wo sie getrennt voneinander in einem maroden Betongraben lebten und nie eine Winterruhe halten konnten. Da eine Sanierung des Geheges nicht finanzierbar war, entschied sich der Zoo, Sam und seine Schwester an Vier Pfoten zu übergeben.

Leider war nicht allen der nach Arosa gebrachten Bären ein langes Leben im Arosa Bärenland vergönnt und das Team musste sich frühzeitig von zwei geretteten Tieren verabschieden. «Napa starb an der seltenen Epilepsie und Jambolina hatte während der Narkose für die Zahnbehandlung einen Herz-Kreislauf-Kollaps», berichtet Hans Schmid. Gemäss den Erfahrungen des wissenschaftlichen Leiters sind Bären aus schlechter Haltung aber nicht unbedingt anfälliger für Krankheiten. «Problematisch sind oftmals jedoch die durch das lebenslange Gitterbeissen abgebrochenen und gespaltenen Zähne, die wir tierärztlich behandeln müssen.»

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Langeweile darf nicht sein

Der in Arosa aufgewachsene Hans Schmid kennt sich als ehemaliger Leiter der Tierpflege im Zoo Zürich bestens mit der artgerechten Haltung und Beschäftigung von Wildtieren in menschlicher Obhut aus und weiss, wie den misshandelten Bären geholfen werden kann. «Ziel des Haltungskonzeptes im Arosa Bärenland ist, dass die bei der Ankunft schwer verhaltensgestörten Bären ihre angeborenen Bedürfnisse ausleben, das natürliche Verhalten lernen und die Verhaltensstörungen ablegen können», erklärt der studierte und promovierte Zoologe. Um das zu erreichen, braucht es eine artgemässe Beschäftigung. «Die schauen wir uns in der Natur ab.» Frei lebende Bären sind bis zu zwölf Stunden täglich mit der Nahrungssuche beschäftigt. «Deshalb schneiden wir im Arosa Bärenland das pflanzliche Futter in kleine Stücke und verteilen es flächendeckend auf der Aussenanlage», erzählt Hans Schmid. «Dadurch fordern wir unsere Bären, sich den ganzen Tag der Futtersuche widmen zu müssen.» Auf der 28 000 Quadratmeter grossen Aussenfläche müssen folglich nicht nur die Tierpflegenden beim allmorgendlichen Verteilen des Futters Sportlichkeit beweisen.

Zudem leben die Bären, die natürlicherweise Einzelgänger sind, in einer Gemeinschaftshaltung. Das führt dazu, dass die Tiere, ganz wie ihre Artgenossen in der Wildnis, ständig aufmerksam sind, denn sie müssen andere Bären als Nahrungskonkurrenten im Auge behalten. Bei dem grossen Nahrungsangebot, wie es im Arosa Bärenland angeboten wird, müssen sich die Allesfresser allerdings keine Sorge wegen zu wenig Futter machen und können in genügender Distanz voneinander entspannt fressen.

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Kein Tropfen auf den heissen Stein

Platz bietet das Gelände für insgesamt fünf Tiere. In Zukunft könnte Arosa also noch um einen geretteten Bären reicher werden. Ausgewildert werden können die Tiere wegen ihrer Gewöhnung an den Menschen indes nicht mehr und verbringen ihr restliches Leben im grosszügigen Naturgehege.

Stimmen, die sagen, dass das Arosa Bärenland mit einer Aufnahmekapazität von nur fünf Tieren ein Tropfen auf den heissen Stein sei, erwidert Hans Schmid: «Nichts zu machen und wegzuschauen, wäre schlechter.» Insgesamt betreibt die Tierschutzorganisation Vier Pfoten sechs eigene Bärenwälder, in denen insgesamt 140 gerettete Bären leben. «Das lässt sich sehen», sagt der Zoologe. «Es sind viele Tropfen auf den heissen Stein. Unser Ziel ist, dass der Stein allmählich abkühlt und es uns nicht mehr braucht.»

Sinn macht seine Arbeit für Hans Schmid allemal und prägende Momente gibt es für ihn immer wieder. «Was mich am meisten beeindruckt, ist die Verhaltensentwicklung aller in Arosa angekommenen und verhaltensgestörten Bären», erzählt der Bärenfreund, der viel Herzblut in das Projekt investiert. «Vor Ort beobachten zu können, wie sich die Bären zunehmend natürlich verhalten und die Verhaltensstörungen abbauen, bewegt mich jedes Mal.» Und das können auch die zahlreichen Besucherinnen des Arosa Bärenlandes hautnah erleben und sich bei den Tierpflegenden persönlich über die Geschichten der Bären erkundigen.

Unterdessen machen sich Amelia, Meimo, Jamila und Sam, die an diesem Morgen von ihren Tierpflegerinnen aus ihren Innenstallungen zur Futtersuche auf die Aussenanlage gelassen werden, unbekümmert und schmatzend über die verteilten Leckerbissen her. In ihrer neuen Heimat in den Schweizer Alpen, fernab von Leid, ist von ihrer tristen Vergangenheit keine Spur mehr zu erkennen.