Während der Morgenverkehr über die Autobahn rauscht, stehen hinter dem Zaun zwei Rehe und schauen auf die andere Seite der Fahrbahn. Was den einen oder anderen Autofahrer nervös macht, ist für die Tiere lebensgefährlich: Sie wollen die Strasse überqueren. Der Versuch kostet viele von ihnen das Leben. Jedes Jahr fallen zwischen 17 000 und 20 000 Wildtiere dem Strassenverkehr zum Opfer, darunter etwa 7500 Rehe, 6000 Füchse und 2500 Dachse. Nicht in der Statistik erfasst werden kleinere Tiere wie Marder und Igel.

Wildschutzzäune wie der, an dem die beiden Rehe stehen, lösen das Problem nur teilweise. Denn sie hindern die Tiere zwar daran, auf die Fahrbahn zu laufen, aber sie können trotzdem nicht auf die andere Seite. Oftmals zerschneiden Strassen und andere Verkehrswege den Lebensraum von Wildtieren in kleinere Fragmente, weshalb sie diese auch überqueren wollen.

Viele Tierarten nehmen weite Wege auf sich, um nach Nahrung oder Partnern zu suchen oder am Ende ihrer Jungtierzeit in ein neues Revier abzuwandern. Strassennetze bilden so oft unüberwindbare, tödliche Barrieren.

Unterbrochene Korridore

Wildtierpassagen sollen hier Abhilfe schaffen. Die grünen Brücken ermöglichen es Rehen und Co., Strassen und andere Verkehrsinfrastrukturen sicher zu überqueren. Schutzzäune entlang der Verkehrswege leiten das Wild zu den entsprechenden Passagen und verhindern auf diese Weise Unfälle.

Das Bundesamt für Umwelt hat in der Schweiz über 300 Wildkorridore von überregionaler Bedeutung entdeckt. Diese Korridore sind feste Routen, auf denen sich Wildtiere zwischen Gebieten bewegen. 16 Prozent der Korridore sind so unterbrochen, dass sie von den Tieren aktuell nicht mehr benutzt werden können. Über die Hälfte der Korridore sind durch Verkehrswege stark beeinträchtigt.

1992 wurden in der Schweiz beim Neubau der N7 im Kanton Thurgau die ersten zwei Wildtierüberführungen erstellt. Heute überqueren 41 solcher Brücken die Nationalstrassen der Schweiz. Sie sollen in den nächsten Jahren saniert und einige zusätzliche Brücken gebaut werden.

Das Bundesamt für Strassen (ASTRA) hat dazu detaillierte Projektpläne ausgearbeitet. Bereits die Hälfte der Wildtierkorridore wurden inzwischen saniert oder die Realisierungsphase hat zumindest begonnen. Bis 2033 sollen so 43 Wildtierüberführungen neu gebaut oder aufgewertet werden.

Mehr spannende Artikel rund um Tiere und die Natur?Dieser Artikel erschien in der gedruckten Ausgabe Nr 05/2023 vom 9. März 2023. Mit einem Schnupperabo erhalten Sie 6 gedruckte Ausgaben für nur 25 Franken in Ihren Briefkasten geliefert und können gleichzeitig digital auf das ganze E-Paper Archiv seit 2012 zugreifen. In unserer Abo-Übersicht  finden Sie alle Abo-Möglichkeiten in der Übersicht.

Jetzt Schnupperabo abschliessen

Zur Abo-Übersicht

Dass solche Passagen funktionieren und die zum Teil schon länger unterbrochenen Korridore wieder durchgängig gemacht werden können, zeigt eine systematische Funktionskontrolle der Wildtierpassagen an schweizerischen Nationalstrassen zwischen 2000 und 2016. Dazu wurden an 20 der bestehenden Wildbrücken Fotofallen und Infrarot-Videokameras zur Erfassung von Tieren aufgestellt. Zudem wurden ortskundigePersonen befragt und nach Spuren im Schnee gesucht.

«Hirsche stehen an der Autobahn, ohne Möglichkeit, hinüberzukommen.»

Fast alle Brücken wurden demnach von Füchsen, Rehen und Feldhasen sowie die Hälfte von Wildschweinen genutzt. Kleinere Säuger wie Marder, Mäuse, Igel und Iltisse wurden ebenfalls an allen Brücken festgestellt. Rehe nahmen die bis zu 60 Meter breiten Brücken sogar als Teil ihres Lebensraums an und scheinen sich auf den Bauwerken sichtlich wohlzufühlen. Rothirsche konnten in vier Fällen beobachtet werden.

«Das liegt einerseits daran, dass der Rothirsch sehr scheu ist», erklärt Dr. Stefan Suter, Wildtierbiologe an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, «ausserdem liegen viele der Wildbrücken im Mittelland, wo der Rothirsch gerade erst auf dem Vormarsch ist.» Wo die imposanten Tiere heimisch sind, würden sie die Brücken jedoch durchaus nutzen. Ein im Sihlwald ZH mit einem GPS-Sender ausgerüsteter Hirsch sei sogar über die erst 2021 neu gebaute Brücke in Neuenkirch LU gegangen.

Dass Tiere die Brücken so bereitwillig annehmen, liegt sicher daran, dass beim Bau darauf geachtet wird, diese naturnah zu gestalten. Die strukturreiche Landschaft auf den Bauwerken mit offenen und halboffenen Teilen sowie viel Deckungsmöglichkeiten erleichtern es den verschiedenen Arten, die Strasse angstfrei zu überqueren. Lärmschutzwände schirmen den Wildtierbereich akustisch vom Verkehr ab und reduzieren den damit ausgelösten Stress bei lärmempfindlichen Arten wie Rehen.

Nachholbedarf bei Schweizer Strassen

«Die ASTRA hat sich in den letzten Jahren mit dem Neubau und der Sanierung bestehender Wildtierbrücken richtig ins Zeug gelegt», lobt Stefan Suter. Um die Schweizer Wildtierpopulationen zu vernetzen, bräuchte es jedoch noch viel mehr. «Ein Gegenargument ist oft, dass der Brückenbau teuer sei. Wenn man jedoch bedenkt, dass der Neubau eines Kilometers Autobahnabschnitt zwischen 100 und 250 Millionen Franken kostet, so sind die 10 bis 15 Millionen für eine Brücke nicht wirklich ausschlaggebend.»

Über bereits bestehende Nationalstrassen eine Überführung zu bauen, sei wegen des Verkehrs oft aufwendiger als beim Neubau Brücken mit einzuplanen. Den grössten Bedarf sieht Suter an der N1, besonders im Abschnitt zwischen Solothurn und Bern, sowie auf der Stecke von Zürich nach Winterthur und Gossau. Gleich mehrere Wildtierkorridore werden dort durch die Nord-Süd-Verkehrsachse unterbrochen. «Da stehen Hirsche an der Autobahn und haben keine Möglichkeit, hinüberzukommen».

Die Sanierung bereits bestehender Objekte würde die Tiere, die sie nutzen, kaum stören, versichert Suter. «Natürlich meiden Wildtiere die Brücken während der akuten Bauphase, schon nur, weil dort Menschen und Maschinen zugange sind.» Sobald diese jedoch wieder verschwunden sind, würden die Überführungen schnell weitergenutzt werden. Wie gross der Effekt von Aufwertungsmassnahmen sein können, zeigen Zahlen einer Unterführung im Gebiet Suret bei Rupperswil AG. Hier wurde ein Wildtiertunnel, der unter den Bahnschienen hindurchführt, verbreitert und statt mit einem Pfad mit natürlicher Vegetation versehen. Nach der Massnahme nutzten doppelt so viele Tiere und fünf zusätzliche Arten den Tunnel.