Es raschelt im Laub an diesem Herbstnachmittag. Neugierig lugt ein Fuchs hinter einem Baumstamm hervor und flitzt ins tiefe Dickicht. Ich bin mit Jost Schneider im Wald hoch über St. Gallen unterwegs. Kein anderer Mensch ist zu sehen. Aber die Trampelpfade, die sich um grosse Buchen herum, durch tiefe Brombeerbüsche und an Totholz vorbei winden, kennt der Naturfilmer, der auch für SRF, ARD, Arte und BBC im Einsatz ist, genau. Denn seit über zehn Jahren filmt und studiert er in diesem Mischwald eine Dachssippe. «Dachse gehören zu den am wenigsten erforschten Säugetieren unserer heimischen Fauna», sagt er, «weil sie fast ausschliesslich nachtaktiv sind, ist die Beobachtung so schwierig.» Doch mit bis zu sieben Wildbeobachtungskameras, die er an den Bäumen rund um den Dachsbau befestigt hat, sind Schneider spektakuläre Aufnahmen gelungen. Hunderte Stunden hat er über die Jahre in diesem Wald und mit der Beschau des Filmmaterials verbracht. «Und bei jeder Sichtung habe ich neue Überraschungen erlebt», sagt der 74-Jährige. Ein Vorurteil, mit dem er dringend aufräumen möchte: «Viele halten Dachse für mürrische Einzelgänger, weil man meist nur Einzeltieren begegnet, aber in Wirklichkeit sind sie sehr soziale Tiere. Hier in diesem Bau haben sich zeitweise bis zu 15 Tiere getummelt – das war erstaunlich.»

Dachsrüden teilen mehr, als man denkt

In seinem 46-minütigen Film «Dachsgeheimnisse», der im Januar 2024 während der Ausstellung «Wow … ein Dachs!» im Naturmuseum Olten erstmals vorgeführt wurde, sind Dachsaufnahmen zu sehen, die an Menschenaffenfamilien erinnern: Die grössten Vertreter der Marderartigen in Europa lümmeln oft in Fünfergruppen aneinander gekuschelt in Erdkuhlen auf dem Waldboden, widmen sich ausgiebig der gegenseitigen Fellpflege oder kullern spielerisch über die Hügel – dabei sind kicherartige Klickgeräusche zu hören. «Dachse sind verspielt, manchmal rabiat, aber pflegen auch ein sehr ausgeprägtes Sozialleben», fasst Schneider zusammen. In einer Aufnahme schleppt sich eine Fähe mit Beinverletzung aus einem steilen Baueingang und wird, oben angekommen, von einem Sippenmitglied umkreist, beschnuppert und mit Kontaktlauten beruhigt, die auch Dachsmütter bei ihren Jungtieren einsetzen. «Anteilnahme ist an diesem Verhalten zu erkennen», so die Interpretation des Naturfilmers. Erwachsene und Jungtiere aus dem aktuellen Wurf und aus Vorjahren teilen sich den Bau, der meist über Generationen genutzt wird. In der Regel gibt es je einen dominanten Dachsbären oder -rüden (Männchen) und eine dominante Fähe, die als einziges Weibchen des Clans Jungtiere zur Welt bringt. «Mit der Regel ist das aber so eine Sache», lacht Schneider, «ich konnte zeitweise nicht nur zwei sich gegenseitig anerkennende Rüden, die sich beide mit der Bauchefin paarten, ausmachen.» Das sei etwa an gegenseitiger Pelzpflege zu erkennen gewesen. «Es kam auch vor, dass ein untergeordnetes Weibchen ebenfalls Jungdachse zur Welt brachte und beide Würfe gemeinsam aufgezogen wurden.» Was er noch beobachtet hat: «Nebst der Reviermarkierung, markieren sich die Sippenmitglieder gegenseitig mit einem Sekret der Analdrüse, um einen gemeinsamen Familiengeruch zu kreieren, der sagt: Du gehörst zu uns!»

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Wir erschnüffeln oder erspähen an diesem Nachmittag keinen Dachs – finden dafür aber jede Menge Spuren der nachtaktiven Tiere: Noch feuchte, aus dem Bau geschaufelte Erde mit rinnenartigem Muster sind vor aktuell genutzten Eingängen erkennbar. «Während sie mit den Hinterbeinen rückwärts gehen, benutzen sie ihre kräftigen, breiten Vorderpfoten, um Erde aus dem Bau zu schaffen», erklärt Jost Schneider und macht Grabbewegungen mit seinen Armen, «übrig bleiben diese Rinnen, die unverkennbar zeigen: Hier war ein Dachs am Werk.» Um es sich im Bauinneren bequem zu machen, ziehen sie ebenfalls rückwärtsgehend Polstermaterial wie trockenes Laub, Heu und Farnblätter in die Tunneleingänge hinein.

Dachse und Füchse unter einem Dach

Bei unserer Tour zählen wir mehr als 25 Eingänge über den Hang verteilt. Fast perfekt rund und mit etwa 30 Zentimetern Durchmesser sind die wuchtigen Löcher leicht zu entdecken. «Dachsburg» wird der Bau auch genannt, weil das Ausmass gewaltig sein kann und die sieben bis vierzehn Kilo schweren Baumeister ständig buddeln, graben und umgestalten. «In der Regel nutzt die Sippe hier fünf bis sieben Eingänge aktiv – aber das ändert sich ständig», sagt der Naturfilmer, «es war oft ein Glücksspiel, immer neu zu entscheiden, wie ich meine Kameras platziere.»

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Auf seinen Aufnahmen sind Rehe, Hasen, Eichhörnchen, Buntspechte und Buchfinken zu entdecken. Aber allen Dachsnachbarn voran auch jede Menge Füchse. «Sie nutzen gerne verlassene Bereiche der Dachshöhlen und haben sich hier in einem verschneiten Winter sogar denselben Eingang ins Bausystem geteilt», sagt Schneider, «sie tolerieren sich, lassen einander meist kühl-distanziert in Ruhe.» In einer Filmaufnahme zerrt eine Dachsfähe ein totes Fuchsjunges aus dem Bau. «Was da geschehen ist, weiss ich nicht. Aber sie teilten sich den Bau weiterhin, auch wenn Drohgebärden wie Fauchen danach eine Zeit lang zugenommen haben.»

Diese tierische Nachbarschaft war es, die dazu geführt hat, dass der Dachs in der Schweiz nahezu ausgerottet war. In den 1970er-Jahren kämpfte man gegen Tollwut, deren Hauptüberträger hierzulande der Fuchs war. Giftige Gase wurden in die unterirdischen Bauten geleitet. Doch während Füchse tagsüber den Bau verliessen, schliefen Dachse darin – und starben. Eine Studie der Forschungsgemeinschaft SWILD kam 2018 zu dem Ergebnis, dass sich die Zahl der Dachse in den bis dahin vergangenen 20 Jahren verdoppelt hatte. Dass die Population wieder steigt, zeigt auch die steigende Anzahl von Sichtungsberichten. Schneider erzählt: «Ich konnte mehrfach Dachse mitten in St. Gallen filmen, im Garten eines Bekannten plünderten sie mitten am Tag in einer Gruppe aus vier Tieren die süssen Stachelbeeren vom Strauch – Johannis- oder Himbeeren hingegen interessieren sie überhaupt nicht.» Neben Früchten schätzen die Allesfresser Wurzeln, Käfer, Schnecken, Würmer, Larven, Samen und Mäuse.

Ein Sammelplatz fürs Geschäft

«Im Winter, wenn Nahrung kaum verfügbar ist, halten Dachse Winterruhe, um Energie zu sparen», weiss Schneider, «nur selten bekam ich dann einzelne Tiere vor die Linse, etwa, wenn sie am Baueingang auftauchten, um Schnee zu fressen – oder um Kot abzusetzen.» Auf dem Rückweg aus dem Wald hinaus zeigt mir Schneider rund 100 Meter entfernt von einem Eingang dann auch, wo die Sippe das tut: «Sie haben für ihr Geschäft eine Art Sammelplatz», sagt er und deutet auf einen etwa zwei mal zwei Meter grossen Bereich voller Häufchen. Weiss der Naturfilmer auch, was im Bauinneren passiert? «Nein. Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, mit mobilen Kameras in den Bau einzudringen, um die Tiere nicht zu stören», sagt Schneider. Sein Tipp: «Im Natur- und Tierpark Goldau können Interessierte durch eine schützende Scheibe einen Blick in eine bewohnte Dachshöhle werfen.»