Kiesgruben
Steinige Oase für Tiere und Pflanzen
Wenn Kies abgebaut wird, entsteht eine ökologisch wertvolle Brachfläche. In diesem kleinen Naturparadies finden seltene Pflanzen und Tiere eine (Über-)Lebensgrundlage; einen Ersatz für verloren gegangene natürliche Lebensräume.
Je mehr gebaut wird, desto mehr Beton braucht es. Die Grundlage dafür ist Kies, welcher mit Sand, Zement und Wasser zu Beton verarbeitet wird. Der Abbau von Steinen, Kies, Sand oder Lehm hinterlässt offene Flächen, die sich ökologisch sinnvoll nutzen lassen. Auf diesen Brachen leben viele Pflanzen und Tiere. Auch sogenannte Erstbesiedler (Pioniere) finden dort einen Ersatz für ihre natürlichen Lebensräume, die infolge grösserer Flussverbauungen heute nicht mehr existieren.
Viele Auen- und Feuchtgebietsarten unter den Vögeln, Amphibien, Libellen, Heu-schrecken und Pflanzen sind deshalb auf Ersatzstandorte angewiesen. Insbesondere für Amphibienarten wie Kreuzkröte, Gelbbauchunke und Geburtshelferkröte sind solche Orte wichtig. Vögeln dienen die Abbau-Oasen nicht nur als Rastplätze für zahlreiche Durchzügler, hier finden auch bedrohte Brutvogelarten wie der Flussregenpfeifer und die Uferschwalbe Lebensräume für die Jungenaufzucht. Bei den Insekten sind gleich mehrere Familien auf diese Kiesgrubenflächen angewiesen, etwa die Sandlaufkäfer, die Blauflügelige Sandschrecke oder die Kleine Pechlibelle.
Der doch mehrheitlich magere Boden lässt auf den Brachen viele attraktive Ruderalpflanzen wachsen, etwa Natternkopf, Königskerze, Rosmarinblättriges Weidenröschen oder Huflattich. Pflanzenarten aus der Familie der Schmetterlingsblütler sind besonders stark vertreten. Doch auch die unerwünschten Neophyten fühlen sich dort wohl. «Zahlreiche invasive Neophyten finden innerhalb der Kiesgruben einen Lebensraum, der ihnen entspricht», bestätigt Beat Haller, Leiter Natur und Boden beim Fachverband der Schweizerischen Kies- und Betonindustrie FSKB.
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«Zudem werden über Materialtransporte von Baustellen immer wieder Samen oder Wurzelstücke von unerwünschten Pflanzen angeliefert.» Schulungen der Maschinisten in Bezug auf die Bekämpfung der Neophyten, ständige Reduktionsmassnahmen sowie Nachkontrollen sind Teil der Arbeiten in den Abbaustellen, hält er fest. Eine Gegenmassnahme sei zudem die aktive Förderung der einheimischen Pflanzen in den Kiesgruben.
Sinnvolle Wanderbiotope
Damit sich die temporären Naturflächen zu Oasen für Artenvielfalt entwickeln können, muss der Kiesabbau optimal geplant werden. Während dem laufenden Abbau erstellen die Mitarbeiter am Rand der Grube immer wieder verschiedene meist hochwertige ökologische Flächen, die zwischen Abbau und Auffüllung jeweils verschoben werden, erklärt Beat Haller das Vorgehen. «Diese sogenannten Wanderbiotope sind Lebensraum von Pionierarten unter den Pflanzen und Tieren.» Nach dem erfolgten Kiesabbau wird grundsätzlich der ursprüngliche Lebensraum wieder her-gestellt: Wald wird wieder Wald, Landwirtschaftsland wieder Landwirtschaftsland.
In den meisten Abbaubewilligungen sei festgehalten, einen Teil der gesamten Abbaufläche zu ökologisch wertvollen Flächen umzugestalten. «Wie gross dieser Anteil ist, bestimmen die Verantwortlichen im Rahmen der Planung und Bewilligung.» Einige Kiesgruben bleiben zugunsten der Artenvielfalt weiterhin bestehen oder sind als Naturschutzgebiete ausgewiesen. «Die Wanderbiotope innerhalb des laufenden Abbaus verschwinden nach zwei, drei, vier oder vielleicht zehn Jahren. Anschliessend werden sie von der Auffüllung und der Rekultivierung überdeckt. Doch in der Zwischenzeit entstehen neue Wanderbiotope – die nach einer gewissen Zeit ebenfalls wieder verschwinden werden», so Beat Haller. «Dieser dynamische Prozess zieht sich über die gesamte Abbaudauer.»
Naturflächen, welche auf bereits abgebauten und aufgefüllten Flächen entstehen, sind vertraglich oder zonenplanverbindlich langfristig gesichert. Auffüllen und abbauen erfolgen gleichermassen dynamisch: «Auf der einen Seite bauen wir ab, auf der anderen Seite füllen wir auf», sagt Beat Haller. «Wenn wir Wanderbiotope während der Auffüllung überschütten müssen, wird dieser Bereich vorgängig so umgestaltet, dass die Attraktivität für Tierarten stark abnimmt. Temporäre Gewässer etwa lassen wir im Winter austrocknen, sodass wir im Frühling keine Amphibien überschütten.» Bei Bedarf würden auch bestimmte Arten umgesiedelt. «Die meisten Arten, die wir in der Abbaustelle fördern, haben jedoch eine hohe eigene Mobilität.»
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Für die Vogelwarte Sempach etwa stellt der Schutz von Kiesgruben abhängigen Vögeln vor neue Herausforderungen. Das sind allen voran die Uferschwalbe, etwas weniger auch der Flussregenpfeifer. Kiesgruben, in denen diese Arten vorkommen, sollten nicht wieder oder höchstens teilweise aufgefüllt werden, sofern genügend Lebensraum erhalten bleibt, fordert die Organisation. Beat Haller: «In ganz vielen Projekten arbeiten wir mit unterschiedlichsten Organisationen zusammen, um die Förderung der Artenvielfalt sicherzustellen. Das betrifft sowohl nationale Naturschutzorganisationen als auch lokale Organisationen. Ob eine Abbaustelle zugunsten der Natur teilweise offenbleiben kann, entscheidet nicht der Unternehmer, sondern die Behörde im Rahmen des Bewilligungsverfahrens.»
Vorzeigeprojekt in Pontresina
Die Stiftung Natur & Wirtschaft, 1995 anlässlich des europäischen Naturschutzjahres vom Bundesamt für Umwelt und Wirtschaftsverbänden gegründet, zertifiziert naturnah gestaltete Firmenareale und Umgebungsplanungen in den Kategorien Unternehmen, Schule, Wohnen, Privatgärten und Kies. Eine von der Stiftung zertifizierte Kiesgrube ist jene der Montebello AG in Pontresina. Ein Vorzeigeprojekt: Die Naturfläche ist Bestandteil des Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung.
Seit 1959 baut das Kieswerk in der Schotterebene der Ova da Bernina Kies ab. Die Abbauprozesse haben das Flussbett auf dem Areal verbreitert, entstanden ist ein Mosaik an Lebensräumen auf einer rund 150 000 Quadratmeter grossen Fläche. Auf dem Areal gedeihen seltene Pflanzen wie Erdbeerspinat, Fleischers Weidenröschen und die deutsche Tamariske. Sie gehören zu den Pionierarten, welche auf wechselfeuchte, durchlässige Böden und vegetationsarme Standorte angewiesen sind. Flussuferläufer und Flussregenpfeifer finden auf den kargen Sandbänken optimale Brutbedingungen, in seichten Tümpeln tummeln sich Kaulquappen.
Seitlich des Flussufers wurden Bäume gefällt und so dem Braunkehlchen optimale Bedingungen zum Nisten geschaffen. Für den seltenen Neuntöter, einen Vogel, der seine Beute an Dornen aufspiesst, hat man Dornensträucher gepflanzt, für die Bachforellen einen Bachlauf freigelegt, damit sie den Aufstieg in ein erhöhtes Stillgewässer schaffen. Erdkröten und Grasfrösche tummeln sich in den recht zahlreichen Kleingewässern auf dem Areal.
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Montebello-Betriebsleiter Flurin Wieser hat viel zu diesem Vorzeigeprojekt beigetragen. Bereits im Abbauprozess motivierte er seine Mitarbeitenden, ihre Arbeit perfekt und mit Freude auszuführen, um beste Voraussetzungen für die Renaturierung zu schaffen. «In unserem Fall durften die Böschungen am Ende nicht zu steil sein, damit wir den natürlich gewachsenen Boden eins zu eins wieder auf den Böschungen versetzen konnten», so Flurin Wieser. «Die Flächen durften nicht geometrisch sein, sondern eher wild und unregelmässig.» Zudem musste für die Erstellung der Lebensräume genügend Material wie Steine, Baumstrünke, Totholz usw. zurückgelassen werden. Nach der Renaturierung brauche die Naturfläche keinen Unterhalt, vielmehr müsse sie in Ruhe gelassen werden.
«Ich begehe unser Abbaugebiet sehr oft, beobachte die Entwicklung und sorge dafür, dass eventuelle Schäden rasch behoben werden. Denn das Areal entwickelt sich ständig weiter, abhängig von eventuellen Hochwassern, regelmässigen Überflutungen, Erosion usw.» Die grösste Herausforderung für die Renaturierung einer Abbaufläche sei das fachliche Potenzial, sagt Flurin Wieser. «Es braucht überdurchschnittlich fähige Mitarbeiter mit Sinn für natürliche Vorgänge. Denn nach erfolgter Renaturierung ist der Schutz von Pflanzen und Tieren in touristisch genutzten Flächen schwierig.»
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